Die Anfänge einer Freundesrunde in Wertheim

Seine Freunde und Schüler — oft genug war beides dasselbe — nannten ihn ein Leben lang »Hamlet«, und als der junge Lehramtskandidat Willy Hellemann nach den Osterferien 1920 am Wertheimer Gymnasium seine erste Dienststelle antrat, um Französisch und Deutsch zu unterrichten, ahnte noch niemand, dass er in den wenigen Jahren, die er an Main und Tauber verbringen würde, zu einem so großen Lehrer im besten Sinn des Wortes werden würde, dass seine Wirkung bis heute erspürt werden kann. Ursprünglich unter seinem Einfluss entstand eine Runde, zuerst hier, später auch anderswo, deren Aktivitäten ein Licht auf die kulturellen Ereignisse der zwanziger Jahre in Wertheim werfen, die für die Malerei schon wiederentdeckt sind. Man denke nur an die Modersohns oder die ungarischen Maler aus dem Pariser »Café du Dome«, die magnetisch von Wertheim angezogen wurden.

 

Das ehemalige Pfarrhaus der evangelischen Hospitalpfarrei in der Mühlenstraße 45; hier lebte Wolfgang Frommel, der Wertheim zeitlebens verbunden blieb, von 1920 bis 1923. --- Foto: Friedrich Lehmkühler

 

Hellemann, Jahrgang 1893 und gebürtiger Straßburger, kam aus dem protestantisch-bündischen Milieu der Jugendbewegung, in diesem Fall: dem Evangelischen Bibelkreis (BK). Er war im Ersten Weltkrieg Offizier gewesen und hatte sich nach dem Krieg für den Lehrerberuf entschieden. Seine Aufgabe sah er darin, die Jugend mit der europäischen Geistesgeschichte, aber auch mit den Ideen und der Lebenshaltung des »Wandervogels« vertraut zu machen und ihr ein christlich-humanistisches Weltbild zu vermitteln. Außerdem schrieb und dichtete er: Grundsätzliches und Erbauliches unter seinem bürgerlichen Namen, Lyrik unter dem Namen Hans Boeglin, der vor allem Kennern des Umfeldes des Dichters Stefan George etwas sagt. Das von Hellemann schon früh gedichtete Bundeslied des »BK«, »Es klingt ein Ruf in deutschen Gauen: Wer will ein Streiter Christi sein?«, wurde übrigens noch in den 1960er Jahren im Wertheimer »Evangelischen Burschenkreis« gesungen, der sich — nicht nur, aber auch — auf die bündischen Traditionen des ersten Drittels des Jahrhunderts berief. 

 

Im alten Wertheimer Gymnasium, dem 1869 erbauten badischen Lyceum in der Bismarckstraße, trafen sich "Hamlet" und die "Prominenz" 1920 zum ersten Mal. --- Foto: Friedrich Lehmkühler

 

Zu einer für die weitere Entwicklung entscheidenden Begegnung kam es im September 1920, als der 1902 in Karlsruhe geborene Wolfgang Frommel als Obersekundaner in Wertheim auftauchte. Frommel, Spross einer bedeutenden badischen Theologen- und Pfarrersfamilie, dessen Vater Hofprediger in Karlsruhe gewesen war und inzwischen als Theologieprofessor in Heidelberg wirkte, hatte 1919 nach einem Vorfall das Gymnasium in Heidelberg verlassen müssen und war von seinem Vater zu einem Pfarrerkollegen in Radolfzell geschickt worden, um sich in der Provinz am Bodensee auf die Abiturprüfung vorzubereiten. Frommel war dort ein Jahr lang kreuzunglücklich, wurde krank vor Heimweh und drängte den Vater, ihn dort wegzuholen.

Wertheim sollte schließlich seine letzte Chance sein. Aus den Akten des Gymnasiums, das damals noch im Gebäude der heutigen Edward-Uihlein-Schule in der Bismarckstraße untergebracht war, geht hervor, dass Frommels Schuleintritt trotz misslungener Aufnahmeprüfung am 13. September 1920 auf ausdrücklichen Ministerialerlass aus Karlsruhe »bis Weihnachten auf Probe« erfolgte, nach Weihnachten dann, ebenfalls per Erlass, »endgültig« war. Vater Otto Frommel war nach der verpatzten Prüfung des Filius auf der Bahnrückreise von Wertheim nach Heidelberg zufällig auf den Staatssekretär im Karlsruher Kultusministerium gestoßen und hatte ihm vom Missgeschick des Sohnes berichtet. Die beiden Erlasse waren wohl, so darf man vermuten, die Folge dieses Gesprächs.

Wolfgang Frommel wohnte bis zu seinem Abitur 1923 im Hause von Pfarrer Wilhelm Ratzel, Mühlenstraße 45, jenem Pfarrhaus der Hospitalpfarrei, in dem als letzter Amtsträger bis 1964 Pfarrer Rudolf Bösinger mit seiner großen Familie residierte. Pfarrerssohn Willy Ratzel, etwa gleichaltrig mit Frommel, gehörte auch lebenslang zu dem in Wertheim entstehenden Freundeskreis, wurde selbst Pfarrer, lange Jahre davon in Karlsruhe — und beerdigte Jahrzehnte später, 1969, Willy Hellemann in Bad Godesberg in Anwesenheit vieler Freunde.

Hellemanns charismatische Gabe, die Jugend zu begeistern, sprach auch den problematischen Schüler Wolfgang Frommel an. Mit Begeisterung stürzte dieser sich in den Deutschunterricht Hellemanns und fand auch rasch privaten Zugang zu ihm und seiner Familie, wurde sogar Taufpate des Sohnes. Neben Deutsch waren es vor allem das damals noch übliche Fach Philosophische Propädeutik sowie Geschichte und Geographie, die das Interesse Frommels fanden. Jedenfalls lässt sich dies aus seinem bei Stadtarchivar i. R. Erich Langguth erhaltenen Notenspiegel der Unterprima schließen. Aus einem an gleicher Stelle erhaltenen Aufsatzheft, in dem Frommels — aus heutiger Sicht — außerordentlich anspruchsvolle und tief schürfende Gedanken durch manchmal wie Koreferate erscheinende Kommentare Hellemanns ergänzt sind, wird deutlich, auf welchem Niveau man sich traf.

Zu den engsten Freunden Frommels in der Obersekunda, die ebenfalls Zugang zu Hellemann hatten, gehörten Erich Burger, wie Frommel »Stiftler« aus Heidelberg, und ein weiterer junger Mann, der sich später — noch als Schüler — das Leben nahm. Die drei wurden am Gymnasium, bald aber auch in außerschulischen Wertheimer Kreisen als »die Prominenz« tituliert, eine Bezeichnung, in der sich — vielleicht neben mildem Spott, der von Neid nicht immer frei gewesen sein muss — Anerkennung und Respekt ebenso wie Widerspruch und Gegnerschaft ausdrückten.

Josef Krayer, der später selbst bis zu seinem Tod zur Freundesrunde gehörte, schreibt in einem Beitrag zum Buch »Mutua fides — Freundesgabe für Hans Boeglin«, das 1963 zum 70. Geburtstag des Lehrers und Freundes erschien: Ich war wohl Obertertianer, als Hamlet in Wertheim erschien und den Französischunterricht in der Klasse übernahm. ... In der Klasse waren zwei Schüler, Hugo M., der spätere Direktor des Gymnasiums (Dr. Hugo Max, d. Verf.), und Walter Sch. (Walter Schüßler, d. Verf.), ein heute bekannter Architekt, denen vor allem ich mich gerne angeschlossen hätte. In der Obersekunda gab es eine ausdrücklich so bezeichnete Prominenz, die aus Wolfgang Fr. (Frommel), Erich B. (Burger) und Karl H. bestand und die für mich auf Gipfeln siedelte, zu denen ich nur von Ferne aufzublicken vermochte. Dazu kam noch die ganze Atmosphäre des nicht zu Unrecht Klein-Heidelberg genannten Städtchens, das, von Main und Tauber umflossen, auf schmaler turmbewehrter Landzunge lag... In diesem mit so vielen Gaben ausgestatteten Städtchen blühte ein üppig vielfältiges und spannungsvolles Leben. Die Jugendbünde beunruhigten mit ihrem unbürgerlichen und herausfordernden Stil in Haltung, Kleidung und Feiern, bei Spiel, Wandern und Tanz die ängstlich Gesinnten; musikalische, gesellige und geistige Zirkel fanden sich allenthalben zusammen und wirkten ein Ganzes voll Erregung, Feuer und Besonderheit.

Neben den bereits erwähnten Schülern stießen bald andere zu dem Freundeskreis, als dessen wichtigste Klammern durch die Zeiten sich Wolfgang Frommel und Willy Hellemann erweisen sollten. Die Brüder Hasso und Achim v. Åkerman, Sprösslinge des gerade in Lettland enteigneten baltendeutschen Adels, die von 1919 bis 1924 als »Stiftler« des Melanchthonstiftes das Wertheimer Gymnasium besuchten, gehörten dazu, ebenso Gerd Herrmann, Sohn eines Fürstlich Löwenstein'schen Domänenrates und nach dem Krieg hoher Ministerialbeamter in Bonn, Josef Krayer, Herbert Fellmann vom Neuhof, nicht zuletzt Hugo Max und andere.

 

Ein 1925 aufgenommener Blick in die "Wandervogelbude" mit dem charakteristischen Erker. Leider ist das bald 100 Jahre alte Bild durch Fingerabdrücke und Bakterienfraß stark angegriffen.

 

Ein beliebter Treffpunkt dieser Freunde war die in alten Fotoalben ausdrücklich so bezeichnete Wandervogelbude auf der Burg, in dem Raum des Johannisturmes, der zum Burghof hin einen Erker aufweist. Daneben wurde Wertheim bis in die Jahre des Zweiten Weltkrieges hinein ein wichtiger Anlaufpunkt für auswärtige Freunde, zumal aus Heidelberg. Meist wurden sie von Wolfgang Frommel nach hier gebracht, der immer wieder nach Wertheim zurückkehrte — zuletzt wohl 1969 — und es als Ort seiner mainfränkischen Wurzeln beschrieb.

 

Im rotgedeckten Johannisturm der Wertheimer Burg erkennt man gut den Erker des Turmzimmers, das ab 1920 als "Wandervogelbude" diente. 1931 schrieb Wolfgang Frommel hier Teile seines Buches "Der dritte Humanismus". --- Foto: Friedrich Lehmkühler

 

Der erste von ihnen war Percy Gothein, Jahrgang 1896, Romanist und Spezialist für die italienische Renaissance, aber auch Lyriker und — vor allem — Mitglied des inneren Kreises um den Dichter Stefan George. George hatte den Spross einer Heidelberger Gelehrten-und Künstlerfamilie vor dem Ersten Weltkrieg als 14-Jährigen im Straßenbild der Neckarstadt »entdeckt« und sich seiner Erziehung angenommen. Frommel, frisch mit dem Wertheimer Abitur ausgestattet, studierte in Heidelberg Theologie und Germanistik — Letzteres vermutlich auch bei dem berühmten Stefan-George-Jünger Friedrich Gundolf — und lernte Gothein kennen. Dieser vermittelte 1923 die einzige Begegnung Frommels mit George, die nach dem Urteil der Zeitgenossen und dem Frommels selbst prägend für sein ganzes Leben blieb. Auch die Brüder v. Åkerman trafen bei dieser Gelegenheit auf George.

 

Nur noch als trauriges Fragment aus dem Nachlass Achim v. Åkermans ist dieses Foto erhalten, das wahrscheinlich 1923 entstanden ist und Percy Gothein (Mitte) mit einem bisher nicht identifizierten Jungen (links) und Achim v. Åkerman (rechts) zeigt. Der Raum, in dem das Foto entstand, wird sich wohl kaum noch bestimmen lassen. Denkbar ist, dass die Aufnahme im alten Melanchthonstift am Main entstanden ist.

 

Gothein, im Schlepptau Frommels nach Wertheim gekommen, verkehrte ebenfalls im Hause Hellemann, der damals nahe der Stiftskirche in der Mühlenstraße wohnte. Unter Gotheins und Frommels Einfluss wandte sich die Wertheimer Runde der Dichtung und Gedankenwelt Stefan Georges zu. Ein 1931 im von Frommel mitbegründeten Berliner Verlag »Die Runde« als erstes Werk erschienener Gedichtband »Huldigung — Gedichte einer Runde« wendet sich unausgesprochen, aber zweifelsfrei erkennbar an George. Es enthält auch sehr viele »Wertheimer« Gedichte, die, obwohl alle anonym veröffentlicht, inzwischen zugeordnet sind — unter anderem Boeglin, Frommel, Achim v. Åkerman (dessen älterer Bruder Hasso der Dichterei und der George-Verehrung nichts abgewinnen konnte und Arzt wurde), aber auch Hugo Max und anderen. Der Verzicht auf namentliche Zeichnung der Beiträge und auf Nennung des Adressaten, dazu die bewusst klein gehaltene Auflage gehörten zum Habitus einer selbst ernannten Elite von »Jüngern« im George'schen Sinne, die Öffentlichkeit nicht suchte und nicht brauchte.

Gedichte Boeglins, Frommels und vor allem Åkermans wurden aber auch bei anderen Gelegenheiten veröffentlicht — in Zeitschriften, in Anthologien und in eigenen Gedichtbändchen. Vor allem der junge Åkerman zeigte Produktivität und Qualität. Nach einem ersten Band seiner Gedichte, »Gesichte der Heimat«, den er 1933 als 24-Jähriger im Verlag Die Runde veröffentlicht hatte, erschien ein zweiter Band, »Die Stunde vor Tag«, 1938 im renommierten Insel-Verlag und erlebte dort 1944 sogar eine zweite Auflage. Frommels Band »Gedichte« war das letzte Buch, das in seinem Verlag Die Runde 1937 vor seiner Emigration auf den Markt gebracht wurde.

 

Achim v. Åkerman bei einem seiner vielen Sommerbesuche in Wertheim 1932 auf der Heide beim Weißen Turm mit einem der beiden Winbdhunde des Barons Heyxking, die man in Wertheim kannte und die vermutlich bis zu dessen Tod dem Fürsten Ernst gehört hatten, als dessen Gesellschafter Edgar v. Heyking 1925 nach Wertheim gekommen war.

 

Längst nicht alle aus der Freundesrunde hatten jedoch den Wandel vom »Wandervogel« zum George-Verehrer konsequent mitgemacht und spielten nach dem Abitur, nach dem man auch heute noch ohnehin aus Wertheim fortstrebt, keine oder allenfalls eine lose Rolle für die Wertheimer Runde. Und von denen, die sich für George begeistert hatten, blieben auch nicht alle dieser Haltung treu. Die meisten emanzipierten sich auf dem Weg der persönlichen Weiterentwicklung, blieben der Welt des Anfang 1933 gestorbenen Genius vielleicht etwas loser und kritischer verhaftet. Andere fanden nie den Weg zur Welt Georges oder verließen ihn völlig. Doch sie alle blieben nach prägenden Jugendjahren Teil eines Netzwerkes, das den Kontakt untereinander hielt, auch in späteren schweren Zeiten.

1925 ließ Willy Hellemann sich überraschend nach Westfalen versetzen, ließ Frau und zwei Kinder in Wertheim zurück, und unterrichtete bis in die 1950er Jahre an Gymnasien in Detmold, Minden und Münster. Das Charisma dieses Lehrers wird auch darin sichtbar, dass sich an allen drei Wirkungsstätten um ihn herum wiederum Freundeskreise wie in Wertheim bildeten, die in Person betagter Herren zum Teil heute noch existieren und — mittlerweile mit Hilfe des Internets — weiterhin ein Netzwerk von Geschäftsleuten, Intellektuellen und Künstlern bilden, das sich gegenseitig informiert hält.

Kurz nach Hellemanns Weggang kam im Mai 1925 ein Mann nach (Kreuz)Wertheim, um bis zu seinem Tode 1956 hier zu bleiben, der die Ära Hellemann am Gymnasium zwar nicht mehr miterlebte, der aber zur Runde der Freunde stieß, an deren Anfang Hellemann und Frommel gestanden hatten. Edgar Baron Heyking, den schönen Künsten und den humanistischen Idealen zugewandter Nationalökonom von baltendeutschem Adel, ausgestattet mit einer umfassenden Bildung und großen pädagogischen Anlagen, war zunächst Gesellschafter des Fürsten Ernst im Kreuzwertheimer Schloss. Als dieser 1931 kinderlos starb und sein Neffe Udo Fürst wurde, hatte man für den gebildeten Junggesellen in Kreuzwertheim offenbar keine Verwendung mehr und stellte ihm eine Wohnung im Schlösschen im Hofgarten auf der Wertheimer Seite des Mains zur Verfügung. Dieses wurde fortan Mittelpunkt und Treffpunkt der Freunde der Runde, wenn sie nach Wertheim zurückkehrten, und ihrer Freunde, die sie mitbrachten.

 

1932 dürfte dieses Bild vor der Nordwestecke des heutigen Kunstmuseums Schlösschen im Hofgarten entstanden sein. Es zeigt drei Gäste Edgars v. Heyking: links Wolfgang Frommel, rechts Achim v. Åkerman und in der Mitte den Doktorvater der beiden und frühen George-Verehrer Prof. Dr. Joachim Wach, Religionswissenschaftler aus Leipzig und Enkel des jüdischen Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy. Nach der Machtergreifung der Nazis verlore Wach seinen Lehrstuhl und emigirierte in die USA.

 

Wann Joachim Wach, Enkel des Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy, und später, bis zu seiner Emigration in die USA, bedeutender Religionswissenschaftler an der Universität Leipzig, zum ersten Mal nach Wertheim kam, ist nicht bekannt. Nach seiner Promotion kam er 1922 jedenfalls nach Heidelberg, um Friedrich Gundolf und andere zu hören. Der gebürtige Dresdner, der schon als Abiturient glühender George-Verehrer gewesen war, muss hier Gothein oder Frommel oder beide kennen gelernt haben, ohne die die Verbindung nach Wertheim kaum erklärbar scheint. Sicher ist jedenfalls, dass er 1932, inzwischen längst Universitätsprofessor in Leipzig und Doktorvater Achim von Åkermans, im Schlösschen zu Gast war, wie ein Foto beweist, das ihn zwischen Frommel und Åkerman zeigt.

Auch Frommel, der aber gar nicht recht »zog«, sollte bei ihm promovieren. Wach und sein enger Freund Carl Heinrich (»C. H.«) Becker, Orientalistik-Professor und hoch angesehener preußischer Kulturpolitiker, der von 1921 bis 1930 Staatssekretär und Minister gewesen war, die beide große Stücke auf Frommel hielten, versuchten gemeinsam, Frommel zur Promotion zu bewegen, und berieten sich in einem bisher unveröffentlichten Briefwechsel darüber. Schließlich zog Wolfgang Frommel auch nach Leipzig, wo Wach lehrte, und begann das Vorhaben. Dass letztlich nichts daraus wurde, hängt möglicherweise — wie auch bei Åkerman, dessen Dissertation sogar schon fertig war — damit zusammen, dass Wach als einem Juden die Lehrbefugnis entzogen wurde und er sofort einen Lehrauftrag in den USA annehmen konnte.

Becker gehörte auch zu denen, die eine damals viel beachtete Schrift Frommels begrüßt und in der einsetzenden bildungs- und kulturpolitischen Diskussion verteidigt hatten, die dieser 1932 unter dem Pseudonym Lothar Helbing (Geburtsname seiner Mutter, der Tochter des badischen Kirchenpräsidenten D. Albert Helbing) und dem Titel »Der dritte Humanismus« im Verlag Die Runde veröffentlicht hatte und die 1936 sogar eine dritte — dann von den Nazis verbotene — Auflage erfuhr. Aus Frommels Aufzeichnungen weiß man, wo er dieses Buch schrieb: 1931 in der alten Wandervogelbude auf der Wertheimer Burg.

Sicher bei den Freunden in Wertheim zu Gast war auch Ernst Morwitz, jener berühmte Germanist, Literat sowie Übersetzer und Kommentator Georges, der wegen seiner jüdischen Abstammung ebenso wie seine beiden engen Freunde Ernst Kantorowicz und Erich von Kahler während der NS-Zeit in die Vereinigten Staaten emigrieren musste. Aus einem Brief Achim v. Åkermans weiß man, dass er Morwitz »bei seinem Besuch in Wertheim« um Rat gefragt habe, was er studieren solle. Das wird also 1928 oder 1929 gewesen sein. Åkerman, Jahrgang 1909, war 1924 aus Wertheim nach Lettland zurückgekehrt, nachdem der lettische Staat den früheren Großgrundbesitzern einen Teil ihres Eigentums zurückerstattet hatte, den Åkermans das Gut »Gothensee« nahe der russischen Grenze. Fast jeden Sommer war er aber wieder in Wertheim und fühlte sich hier unter den Freunden wohl. 1928 machte er in Riga sein Abitur, kehrte dann erneut nach Deutschland zurück, um — mit einjähriger Unterbrechung durch den Wehrdienst in der lettischen Armee — in Berlin, Leipzig und Tübingen zu studieren. Hier verband ihn bis zu seinem Soldatentod 1945 eine enge Freundschaft mit Edgar v. Heyking, Wolfgang Frommel und dem dann ebenfalls jung in Russland gefallenen Thülö Röhl.

 

Leider unscharf fotografiert: Achim v. Åkerman bei seinem letzten Besuch in Wertheim im Juli 1942 in der Eingangstür des Schlösschens.

 

Kurz vor seiner Hochzeit war Achim v. Åkerman, mittlerweile Leiter der Volksbibliothek in Hohensalza im Warthegau, im Juli 1942 gemeinsam mit seiner jungen Frau Rosemarie (»Maja«) und seiner Schwester Ruth noch einmal einige Tage im Schlösschen bei Heyking zu Besuch, bevor er Wertheim zum letzten Mal verließ. Anfang 1943 wurde er, als Deutschbalte nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 im Warthegau angesiedelt, zur deutschen Wehrmacht eingezogen. 1943 bei Orel verwundet, kam er Anfang 1945 zu seinem letzten Einsatz an die Front bei Schneidemühl, wo er als Schwerverwundeter im Lazarett von Soldaten der heranrückenden Roten Armee erschlagen worden sein soll. Maja v. Åkerman, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, dass ihr Mann tot war, kam 1947 mit dem 1944 geborenen Söhnchen nach Wertheim, da Baron Heyking als Anlaufstation für den Fall vereinbart war, dass man sich durch den Krieg aus den Augen verlöre. Etwa anderthalb Jahre lebte sie zur Untermiete bei der Familie Jordan in der Oberen Eichelgasse, bevor sie nach Hamburg zog. Heute (2006) lebt sie, 83-jährig, im mittelfränkischen Bad Windsheim in der Nähe ihres Sohnes.

 

Nachdem er 1943 bei Orel/Russland verwundet worden war,  kam Achim v. Åkerman ins Lazerett Goldberg/Schlesien, wo diese Aufnahme mit seiner Frau Rosemarie ("Maja") und Edgar Baron Heyking entstand.

 

Als ehemaliger Schüler Hellemanns aus Minden stieß um 1930 auch Friedrich Martin Otto Kotzenberg auf die Freundesrunde und kam als Freund Percy Gotheins nach Wertheim. Unter dem Künstlernamen Friedrich Martinotto wurde er später als Maler bekannt, die Stadt Heidelberg, in der er den größten Teil seines Lebens verbrachte, hat ihm vor einigen Jahren eine eigene Ausstellung gewidmet. Von ihm existiert ein Gemälde, das ihn selbst, Percy Gothein und Achim v. Åkerman zeigt. Zwei Porträtzeichnungen, die Edgar v. Heyking zeigen, 1935 und 1949 entstanden, sind ebenfalls von Martinotto.

Der reiselustige und umtriebige Wolfgang Frommel unterhielt ein ausgedehntes Netzwerk persönlicher Bindungen zu Freundeskreisen, die untereinander oft nichts miteinander zu tun hatten, oft aber voneinander wussten, sich manchmal auch teilweise überschnitten. Viele dieser Leute hatten allerdings nie mit Wertheim zu tun. Daneben pflegte Frommel einen Freundeskreis aus Heidelberger Zeit um Wilhelm Fraenger, zu dem auch Leute wie Carl Zuckmayer, Carlo Mierendorff und Theo Haubach gehörten. In Tübingen, wo er sich einige Zeit aufhielt, zählte Prof. Carlo Schmid, später Vizepräsident des Deutschen Bundestages, zu seinen Freunden. Die Nazizeit, die vor allem, aber nicht nur für die zahlreichen jüdischen Mitglieder der Freundesrunde Verfolgung und Emigration bedeutete, lockerte zwangsweise manche der engen Bindungen. Und dennoch gelang es immer wieder, Kontakt zu halten.

Frommel wurde 1933 vom Intendanten des Südwestdeutschen Rundfunks und Präsidenten der Reichsrundfunkkammer, Walther Beumelburg, als Abteilungsleiter Wort an den Sender Frankfurt geholt und richtete mit Billigung des NSDAP- und SS-Mitglieds Beumelburg seine berühmt gewordene Mitternachtssendung »Vom Schicksal des deutschen Geistes« ein, in dem Verfemte und Verfolgte mit Berufsverbot, aber auch in wirtschaftlicher Not befindliche Freunde durch Vorträge ein Zubrot verdienen konnten. Die Liste der Beitragenden, von Michael Philipp in seiner hervorragenden Dissertation akribisch untersucht und kommentiert, liest sich in großen Teilen tatsächlich wie ein Ausschnitt aus einem »Who is who« des deutschen Geistes, der bald stumm werden sollte.

Als Beumelburg 1934 zum Reichssender Berlin berufen wurde, nahm er Frommel mit, und dieser setzte seine Aktivitäten dort fort, geriet aber immer mehr in den Fokus des Regimes und musste nach einer Denunziation seinen Platz räumen. Zwischendurch war er immer wieder in Wertheim zu Besuch, unter anderem auch bei Familie Otto Langguth, die vor der Übersiedelung nach Kreuzwertheim zu Frommels Schülerzeiten das Nachbarhaus Nr. 43 neben dem Pfarrhaus (Ratzel) in der Mühlenstraße bewohnt hatte.

1937 erschien Frommel unter dem wachsenden Druck des NS-Regimes seine Situation so unerträglich, dass er emigrierte — über die Schweiz und Italien nach Paris. Von hier aus wurde er bei einem Besuch in Holland 1939 vom Kriegsausbruch überrascht und blieb, zunächst bei einem Künstlerfreund auf dem Lande. 1941 tauchte er in Amsterdam unter und fand Unterschlupf bei der Malerin Gisèle van Waterschoot van der Gracht, der späteren Ehefrau des Juristen, Wirtschaftsführers, Bankiers, Ministers und Amsterdamer Bürgermeisters Arnold Jan d'Ailly, die heute (2006!), über 90-jährig, noch immer in diesem Hause an der Herengracht lebt.

Durch die Jahre der deutschen Besetzung wurde es zum Unterschlupf vor allem für junge Deutsche, meist Juden, die untertauchen mussten. Hunger, Verzweiflung und ständige tödliche Bedrohung wurden, wie in vielen veröffentlichten Zeugnissen belegt ist, mit Gedichtlesungen »bekämpft«, wie man sie einst in Wertheim auf der Burg oder im Schlösschen im Hofgarten oder im Rundtempel seines Parks gepflegt hatte. Auch mit anderen Emigranten fand Frommel Kontakt, besonders engen etwa mit dem Maler Max Beckmann, der im selbst gewählten Exil erst in Paris und dann in Amsterdam lebte. Bevor Beckmann 1947 — vorher hatte er kein Visum erhalten — nach Amerika emigrierte, porträtierte er sowohl Frommel als auch Gisèle van Water-schoot. Das Bildnis Gisèles hängt noch heute in der Herengracht 401, unweit von Beckmanns Atelier am Rokin, wo es entstanden sein dürfte. Das Porträt Frommels befindet sich in einem norddeutschen Museum. Mit sehr viel Glück und nach Durchleben mancher gefährlichen Situation, etwa einer Haussuchung der deutschen Polizei, überlebten die meisten der Amsterdamer Freunde den Krieg.

Einer von denen, die dieses Glück nicht hatten, sondern ein grauenhaftes Schicksal annehmen mussten, war Percy Gothein, der Frommel 1944 in Amsterdam besuchte. Schon in der Wertheimer Freundesrunde (wie schon bei George und seinen Freunden) spielten bei einigen homoerotische Neigungen, teilweise auch praktizierte Homosexualität eine Rolle. Dies wurde Gothein offenbar zum Verhängnis. Es gibt Berichte, dass seine Verhaftung 1944 im ostholländischen Ommen zusammen mit zwei jungen Männern erfolgt sei, weil sie auf frischer Tat bei damals strafbaren homosexuellen Handlungen erwischt worden seien. Gegen die vom Amsterdamer Freundeskreis um Wolfgang Frommel und anderen nach dem Krieg verbreitete Version, Gothein sei im Auftrag der Verschwörer des 20. Juli nach Holland gekommen und damit — unausgesprochen — als Widerstandskämpfer gestorben, lässt bei genauerer Betrachtung Fragen offen. Tatsache ist jedenfalls, dass er zwei Tage vor Weihnachten 1944 im Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg den Tod fand, angeblich durch Typhus. Einer seiner beiden jungen Gefährten überlebte den Krieg, der andere wurde im KZ Buchenwald umgebracht.

Schon zu Ostern 1946 — kaum ein Deutscher durfte oder konnte um diese Zeit verreisen, schon gar nicht über Landesgrenzen — war Frommel wieder in Wertheim und Kreuzwertheim. Einer von zwei Freunden, mit denen er 1939 in Paris zusammengelebt hatte, Ulrich Hollaender, vor den Nazis nach England geflüchteter Neffe des Berliner Komponisten Friedrich Hollaender, war als britischer Major Michael Thomas (ein Name, den er später beibehielt) in Amsterdam aufgetaucht und kurzer Hand per Auto mit Frommel auf Freundestour durch Deutschland gestartet. Michael Thomas wurde in den schwierigen Jahren der frühen Besatzungszeit übrigens auch zum wahren Schutzengel der neuen Wochenzeitungen »Die Zeit« und »Der Spiegel« und war später einer der engsten Freunde von »Zeit«-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff.

Frommel behielt seinen Wohnsitz in Amsterdam, reiste aber viel, vor allem zu Freunden in Deutschland und im Tessin, wohin es erstaunlich viele gezogen hatte. Ein Ehrensold des Bundespräsidenten half ihm bis zu seinem Tod 1986, ein Leben ohne Not zu führen. Gemeinsam mit engen Freunden gründete Frommel 1951 in Amsterdam den Verlag »Castrum Peregrini«, der bis heute (2006!) eine anspruchsvolle Literaturzeitschrift und Monographien — unter anderem auch über v. Åkerman, Gothein und Frommel — für einen überschaubaren Kreis von Interessenten herausgibt. Es ist sicher kein Zufall, dass die Rezeption Stefan Georges und seiner Jünger dabei nach wie vor eine gewisse Rolle spielen.

1982 beging Frommel seinen 80. Geburtstag, der nicht nur von führenden deutschen Zeitungen registriert wurde, sondern neben einem Symposion in Karlsruhe auch Fernsehsendungen der ARD und des ZDF zeitigte, unter anderem in der Reihe »Zeugen des Jahrhunderts«.

 

Zu Willy Hellemanns Freundesrunde im ostwestfälischen Minden gehörte sein Schüler Friedrich ("Fritz") Martin Otto Kotzenberg aus Dankersen, der ebenfalls zu Besuch nach Wertheim ins Schlösschen kam. Als Künstler machte er sich nach dem Krieg als Friedrich Martinotto einen Namen. Diese beiden Porträts Edgar v. Heykings schuf Kotzenberg und 1949.

 

In Wertheim hatte Baron Heyking damit begonnen, im Schlösschen ein Pensionat zu betreiben, in dem er stets, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, einige junge Männer im Geiste des Humanismus erzog. Über diese Erziehungsarbeit und seine Zöglinge, zu deren letzten auch der bis heute als Wohltäter und Leitfigur eng mit dem Hofgartenschlösschen verbundene Wertheimer Unternehmer Helmut Schöler gehört, wird bei anderer Gelegenheit zu berichten sein; ebenso über das Schlösschen als Treffpunkt der ersten Nachkriegszeit für andere, die teilweise sogar aus Siebenbürgen eintrafen, wo einst Percy Gothein auf einer seiner Reisen durch das alte Europa einen Stefan-George-Freundeskreis ins Leben gerufen hatte.

Den Krieg, der enge Freunde aus der Runde und auch Zöglinge Heykings verschlungen hatte, überlebte der baltische Baron um elf Jahre, bevor der starke Zigarettenraucher im November 1956 einem Lungenkrebsleiden erlag. Zwischen seinen beiden Schwestern, von denen die eine ihn überlebte, fand er auf dem Wertheimer Bergfriedhof seine letzte Ruhestätte. Bei der Beerdigung trafen, wie einem Brief Frommels an seine Eltern zu entnehmen ist, nur wenige aus der allerersten Freundesrunde noch einmal zusammen: Pfarrer Willy Ratzel, der die Trauerfeier hielt, Wolfgang Frommel, der aus Amsterdam angereist war, und Gerd Herrmann, der aus Bonn kam.

 

Nachtrag

Der Artikel ist ursprünglich in der Beilage der Wertheimer Zeitung zur Wertheimer Michaelismesse 2006 erschienen. Kleinere redaktionelle Korrekturen, die aus dem Frommel’schen Freundeskreis angemerkt worden sind, sind berücksichtigt und eingearbeitet worden.

Das »Castrum Peregrini« existiert heute (2017) als Stiftung mit Sitz im Stammhaus an der Amsterdamer Herengracht fort. Der gleichnamige Verlag mit der gleichnamigen Literaturzeitschrift wurde 2008 vom Wallstein-Verlag in Göttingen übernommen, wo nun "Castrum Peregrini. Neue Reihe" erscheint.

Inzwischen ist Gisèle van Waterschoot van der Gracht 2013 im 101. Lebensjahr in Amsterdam gestorben.

Das Grab Baron Heykings und seiner beiden Schwestern auf dem Wertheimer Bergfriedhof ist inzwischen aufgelassen und eingeebnet worden. Die drei schlichten Grabsteine, die mittlerweile verwittert und nur noch schwer zu entziffern sind, wurden in den Park des Schlösschens im Hofgarten gebracht, wo sie vor dem Eingang der Löwenstein’schen Grabkapelle in den Boden eingelassen worden sind.