Bajonette vor der Hofhaltung – Wertheim in Tumult und Aufruhr

Im Juli des Jahres 1720 ereignete sich in Wertheim ein Tumult und Aufruhr, in dessen Verlauf die Wertheimer zwei ihrer Mitbürger, die in der fürstlichen Hofhaltung in der Mühlenstraße inhaftiert waren, gewaltsam befreiten. Fürst Dominik Marquard sah Leib und Leben seiner Leute in Gefahr und forderte Mainzer und Würzburger Militär an. Was war passiert?

Alles begann mit dem Schlossergesellen Konrad Schmitt aus Rothenfels, der in Wertheim lebte und arbeitete. Den Wertheimer Schlossern schmeckte dies gar nicht, war er für sie doch ein auswärtiger Konkurrent, der ihnen die Aufträge wegnahm. Außerdem durfte Schmitt als Katholik eigentlich gar nicht in Wertheim sein. Und die Schlosser beriefen sich auf die Wertheimer Schlosserordnung von 1620: Handwerker von auswärts, die man immer als „Stümper“ bezeichnete, sollten der Herrschaft angezeigt werden. Diese wiederum entschied dann, ob die Stümper die Grafschaft Wertheim verlassen mussten. Die Zunft hatte nun Konrad Schmitt bereits im März ordnungsgemäß angezeigt und dabei auch darauf hingewiesen, dass er bereits früher einmal in Wertheim beim Schlosser Schön als Geselle gearbeitet und bei dieser Gelegenheit Schöns Schwester geschwängert hatte. Moralisch war er also auch nicht einwandfrei, so die Botschaft. Eine Entscheidung indes war nicht erfolgt. Dies dürfte nicht nur an der damals legendären Langsamkeit und Entscheidungsschwäche der Wertheimer Regierungen gelegen haben, sondern auch an der konfessionellen Eigenheit des Falles. Wertheim wurde seinerzeit von der katholischen Linie der Fürsten von Löwenstein-Wertheim und der evangelischen Linie der Grafen von Löwenstein-Wertheim gemeinsam regiert. Um Schmitt aus der Stadt zu schaffen, hätten die Regierungen beider Linien zustimmen müssen. Als Katholik stand Schmitt aber zumindest gefühlt unter dem Schutz der katholischen Linie von Löwenstein-Wertheim, und so taten die Wertheimer Regierungen, was sie in solchen Fällen gerne taten: Nichts.

Unterdessen schlosserte Schmitt weiter. Im Sommer 1720 übernahm er gar sämtliche Schlosserarbeiten am Neubau von Peter Kappelmann. Sehr zum Verdruss der Zunftmitglieder. Schmitt führe sich auf wie ein Wertheimer Meister, hieß es, und der Erregungspegel bei den Schlossern stieg. Sie griffen zur Selbsthilfe: Mit Gewalt sprengten sie Schmitts Haustür auf und beschlagnahmten sein Werkzeug (so schilderte es jedenfalls Schmitt).

Dann geschah erst mal wieder nichts. Denn der nächste Tag, Donnerstag der 25. Juli, war der Tag des Heiligen Jacob, der damals in Wertheim Feiertag war.

Umso heftiger die Entwicklung am 26. Juli. Alle Zunftmitglieder werden auf die Kanzlei der katholischen Linie geladen. Sie sollen das Werkzeug zurückgeben. Das lehnen die Schlosser mit dem Argument ab, sie wollten erst den gemeinschaftlichen Befehl dazu abwarten. Daraufhin schreitet nun, so die spätere Darstellung der Stadt, die fürstlich-katholische Seite zur Selbstjustiz, in dem sie in Gestalt des Kanzleidieners Patsch, zweier Stallknechte und von Konrad Schmitt selbst im Haus des Schlossers Peter Ernst Scheel ihrerseits Werkzeug beschlagnahmen, das sie wiederum in das Haus von Schmitt bringen. Diese Gegenbeschlagnahme ist reine Willkür, findet die Stadt. Aber die Wogen der Empörung steigen: Die Schlosser holen sich die Sachen aus Schmitts Haus zurück. Die Geschichte erinnert hier ein wenig an zwei Jungs, die sich gegenseitig im Sandkasten das Spielzeug wegnehmen. Sie erreicht nun allerdings die nächste Stufe der Eskalation: Wieder werden die Schlosser zur katholischen Kanzlei vorgeladen. Dieses Mal kehren zwei Wertheimer Schlosser und Bürger nicht mehr zurück. Christian Fessler und Johann Adam Decholt werden festgenommen und von sechs fürstlichen Grenadieren führen in die Wachstube in der Hofhaltung geführt. Wertheimer Bürger inhaftiert in der Hofhaltung – ein unerhörter, noch nie dagewesener Vorfall, ein glatter Verstoß gegen das „uralte Herkommen“ in der Grafschaft Wertheim. Die evangelische Linie in Gestalt des Grafen Ludwig Moritz protestierte sofort, ohne Erfolg.

Neben dem Konflikt zwischen den Bürgern und der fürstlichen Regierung, bei dem es um die Arbeitserlaubnis für auswärtige Handwerker ging, gab es nun eine weitere Konfliktlinie zwischen den beiden Wertheimer Linien. Denn derartige Verhaftungen wären eigentlich nur mit beider Zustimmung erlaubt gewesen, die katholische Linie hatte aber eigenmächtig inhaftiert. Genauer gesagt: Die Regierung der katholischen Linie in Gestalt von Hofrat Bauer, denn Fürst Dominik Marquard war gar nicht in Wertheim. Wenn aber ein Beamter eigenmächtig inhaftieren ließ und den Protest des evangelischen Grafen dagegen schlicht ignorierte, dann ging das gegen dessen Ehre. Schließlich war Ludwig Moritz Reichsgraf und von Gottes Gnaden Regent der Grafschaft Wertheim, und da sollte er sich von einem Beamten der anderen Linie auf der Nase herum tanzen lassen?

Der nächste Tag war geprägt von Verhandlungen zwischen allen Gruppen. Beteiligt waren Regierungsvertreter beider Linien, Bürgermeister, Zunftmeister, Stadtschreiber, Stadtgericht. Die Suche nach einem Kompromiss scheitert am Hofrat Bauer. Der hat nämlich eine klare Vorstellung, wie es weitergehen soll. Zuerst soll das Werkzeug des Schmitt herausgegeben werden, dann der Scheel das Seinige bekommen und danach kommen die Gefangenen frei. Die Bürger haben nicht zu entscheiden, ob ein auswärtiger Handwerker auszuweisen ist, findet er. Auch die Stellung einer Kaution lehnt er ab. Auch Hofrat Bauer ging es ums Prinzip. Er sah sich im Recht und war nicht bereit, einen Fußbreit nachzugeben.

Schließlich sammeln sich die Bürger in der Mühlengasse, wo sich Grenadiere Bajonette auf die Flinten stecken und so unter dem Tor der Hofhaltung stehen. Soll die Residenz gestürmt werden? Die Bürger verlangen die Freilassung der beiden Schlosser, vergeblich. Als die Nacht kommt, werden sie aus der Hofhaltung heraus mit Steinen beworfen. Die Sturmglocke am Stiftskirchenturm läutet. Es kommt zu einem „vehementen Anlauf des Volks“, man stürmt die gleich hinter dem Tor liegende Wachstube, überwindet die Grenadiere und befreit die beiden Schlosser unter enormem Geschrei.

Dann kehrt Stille ein, alle gehen nach Hause und danken Gott, dass niemand zu Schaden gekommen ist.

Hinterher behaupteten die Bürger, sie hätten bei dem Auflauf vor der Hofhaltung keine Waffen dabei gehabt. Wie es dann allerdings möglich war, die bewaffneten Grenadiere zu überwinden, scheint schwer erklärlich. Fürst Dominik Marquard jedenfalls verbreitete, die Wertheimer hätten seine Residenz mit „Geschrei, mit Wehr und Waffen“ bestürmt. Ferner gab er Graf Ludwig Moritz große Schuld, weil der das Läuten der Sturmglocke veranlasst haben sollte. Und er betonte in seinen Schreiben an die Bischöfe von Würzburg und Mainz und an Reichsorgane die konfessionelle Dimension des Konflikts – vermutlich keine schlechte Strategie, wenn er Hilfe haben wollte. Ursächlich für den Sturm auf die Hofhaltung war die Konfession aber wohl kaum, da spielte der Ärger der Bürger über einen eigenmächtig agierenden Beamten eine größere Rolle. Die Bürger betonten denn hinterher auch immer wieder, wenn Fürst Dominik Marquard persönlich vor Ort gewesen wäre, wäre das Ganze nicht passiert. Allein schon, weil er als weiser Fürst natürlich nicht so gehandelt hätte wie sein Beamter. Vorladungen der katholischen Kanzlei in dieser Angelegenheit indes ignorierten die Betroffenen einfach.

So kann man im Nachhinein nur dankbar feststellen, dass es tatsächlich keine körperlichen Verletzungen gegeben hatte bei diesem an sich doch unglaublichen Vorgang. Aber die Wertheimer wollten sich damals eben auch nicht alles bieten lassen von einem fürstlichen Beamten. Heute ist die Hofhaltung zum Rathaus geworden und die Stadtbürger sitzen also selbst als Herren im damaligen Ort des Geschehens. Eine Wachstube für Grenadiere gibt es aber nicht mehr und auch von Gefangenen, die die städtischen Beamten gemacht hätten, ist nichts bekannt.

Druck: Fränkische Nachrichten 28. 5. 2014