Am 19. Juni des Jahres 1633, einem Mittwoch, wartete der Wertheimer Jude Mayer mit Wertheimer Bürgern in der Kanzlei darauf, dass er an die Reihe kam. Mayer war wegen einer Schuldsache vorgeladen worden. Da ertönten die Glocken von der Stiftskirche und zeigten eine Gebetsstunde an. Die Christen beteten, der Jude Mayer aber wartete einfach weiter. Er wartete, ohne seinen Hut abzusetzen. Das gab Ärger: der Wertheimer Fiskal Adam Drach, heute würde man von einem Staatsanwalt sprechen, machte aus dem Hut eine große Sache. Er warf Mayer vor, durch das Nichtabziehen des Hutes habe er ganz offen die gräflichen Ordnungen in Wertheim missachtet, ja sogar die ganze christliche Religion beleidigt. Drach hielt das für puren Hochmut und verlangte, Mayer mit einer Geldstrafe zu belegen.

Wie man sieht, hatte das Zusammenleben der Religionen in Wertheim damals seine Schwierigkeiten.

Der Jude Mayer aber wusste sich zu wehren. Er verfasste ein fulminantes Verteidigungsschreiben. In der Thora wie in den Büchern Moses in der Heiligen Schrift finde sich ein Gesetz, das es den Juden untersage, mit entblößtem Haupt Gebete zu verrichten, schrieb er. Das Bedecken des Hauptes galt als Zeichen des Respektes vor Gott und das Tragen der Kippa ist bis heute ein verbreiteter jüdischer Brauch. Mayer sprach von „Säck“, die die Juden während der Gebete anlegten. Nun hatte Mayer während des Wartens in der Kanzlei nicht gebetet und auch keine dafür vorgeschriebenen Gegenstände benutzt, sondern er hatte offenbar einen ganz normalen Hut auf, den er nicht abgenommen hatte. Was der Staatsanwalt ihm als Missachtung der christlichen Religion auslegte, deutete er umgekehrt als Zeichen des besonderen Respektes. Aus seiner Sicht hätte er den Gott der Betenden, also den Christengott, durch Entblößen seines Kopfes entehrt.

Abweichendes Verhalten

Das war selbstbewusst argumentiert. Der Wertheimer Jude Mayer beharrte bei der Deutung des Hutabziehens auf dem jüdischen Brauch. Nur dieser war für ihn verbindlich. Mayer bestand auf seinem Recht, sich anders zu verhalten als die Christen, aus religiösen Gründen. Selbst Könige, Fürsten, Grafen und Herren entblößten ihre Häupter nicht, schrieb er weiter, wenn sie „in jüdische Synagogen kommen und unseren Gottesdienst sehen verrichten“. Und er hatte noch ein weiteres Argument, mit dem er Toleranz für sein Anderssein, was das Hutziehen anging, einforderte. Denn die Wertheimer Grafen hätten ihn nicht als Christen, sondern als Juden in Wertheim angenommen. Und weil er bei seinem Glauben bleiben will, will er auch den Hut während der Betstunden aufbehalten. Mayer schreibt weiter, dass er regelmäßig im Gebet bei Gott dem Allmächtigen („dann wir all einen Gott haben“) um Wohlstand und Frieden für die gnädigen Herren bitte, genau wie die christlichen Untertanen der Grafschaft Wertheim es auch täten. Außerhalb der Gebete lebt er gehorsam mit „aller schuldiger Observanz“. Mayer beantragt, die Klage des Fiskals abzuweisen.

Weitere Unterlagen zu dieser Sache sind nicht vorhanden. Vermutlich verlief die Klage einfach im Sande. Aber sie ist ein schönes Beispiel für die Wahrnehmung von kultureller Andersartigkeit im frühneuzeitlichen Wertheim, und zugleich ein Beispiel für das selbstbewusste Einfordern von Toleranz.

Betstunden

Dass religiöse Riten damals auch in Mitteleuropa eine ganz andere Bedeutung hatten als heute, zeigt der Anlass des Streits ums Hutabziehen: die Betstunden. Die Glocken läuteten, und alle Wartenden in der Kanzlei begannen zu beten. Diese Betstunden waren durch die Obrigkeit angeordnet worden. Jeden Mittag um 12 Uhr ertönten in Wertheim drei Glockenstreiche. Dann sollte das Leben auf den Gassen stillstehen und jeder zuhause seine Gebete sprechen. Mittwochs und freitags gab es, zusätzlich zum normalen Gottesdienstprogramm, um halb zwei Betstunden in der Stiftskirche. Dort wurde gebetet und gepredigt, Bußpsalmen wurden gesungen und alle sollten niederknien, um christliche Devotion und Andacht zu zeigen. Die Zeiten waren hart mit Krieg, Pest und Hexenverfolgung, und mit derartigen Bußmaßnahmen hoffte man, Gottes Zorn von Stadt und Grafschaft Wertheim abzuwenden. So jedenfalls die Begründung der Obrigkeit für diese für alle Wertheimer verpflichtenden Betstunden. Was die Wertheimer davon hielten? Das ist genauso schwer zu beantworten wie die Frage, ob es geholfen hat.

Druck: Fränkische Nachrichten 2.10.14