Schwärmen, Lärmen, Böllerschießen: Unfug in der Silvesternacht

In der Nacht, in der das alte Jahr zu Ende geht und das neue noch ganz frisch ist, machen die Menschen seltsame Sachen. Uralt ist der Brauch, in der Neujahrsnacht durch heftiges Lärmen, Schießen und Peitschenknallen böse Geister zu vertreiben. Besonders bedeutsam war die Stunde zwischen 11 und 12 Uhr nachts. Wer in dieser Zeit nackt auf dem Friedhof Moos von einem Kreuz holt, der kann damit seine Gicht heilen, berichtet das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Mit anderen Handlungen konnte man das Glück herbeizwingen: Wer in der Silvesternacht während des 12-Uhr-Glockenschlags zwölf Bier trinkt, der wird das ganze Jahr glücklich sein, glaubte man in der Schweizer Stadt Biel. Außer vielleicht am 1. Januar, könnte man hinzufügen.

Den Brauch, das Böse durch Neujahrsschießen zu vertreiben, gab es auch in Wertheim. Er wurde allerdings bereits von der Regierung der Grafschaft Wertheim gar nicht gerne gesehen. Es ging um die Gesundheit der Untertanen, und es ging um Brandschutz. Deshalb sprach die Obrigkeit im 18. Jahrhundert immer wieder erneuerte Verbote aus. 1748 wurde das „höchst ärgerliche und äußerst gefährliche Neujahr-Anschießen in hiesigen engen Gassen“ verboten. Wo aus den Fenstern geschossen wird, sollten die Hausbesitzer bestraft werden. Die Regierung beklagte auch „sträflichen Mutwillen“ und „exzessive Frechheiten“ in der Residenzstadt Wertheim beim Neujahrsanschießen. Worin die Exzesse und Frechheiten der Wertheimer genau bestanden, wurde leider nirgends notiert, so dass wir uns mit den Verboten begnügen müssen.

Dertinger Neujahrsmusik

Ein besonderer Exzess ereignete sich Silvester 1765 in Dertingen. Dort war der Bürgermeister mit anderen durch den Ort gezogen, hatte vor den Häusern bis in die Morgenstunden Musik gemacht hat und war zum Essen und Trinken in die Häuser hinein gegangen. Bürgermeister Diehm wurde nach Wertheim vorgeladen. Er gab zwar zu, mit den Musikanten unterwegs gewesen zu sein, allerdings mehr als Aufpasser, „damit kein Unfug getrieben werden sollte“. Nicht schlecht argumentiert, denn wer wollte es dem Bürgermeister vorwerfen, wenn er in der Silvesternacht nach dem Rechten sah? Er berichtete weiter, sie hätten zwar Leuchter und Lichter dabei gehabt, aber keine weltlichen Lieder gespielt. Auch bekamen sie zwar Trinkgelder und wurden in die Häuser eingeladen, dort ging es aber, so der Bürgermeister, immer ehrbar zu. Auch dem Dertinger Schultheiß war kein Unfug aufgefallen. Bei den Musikanten habe es sich um drei Lehrbuben gehandelt, die sonntags immer in der Kirchenmusik mitspielten. Sie hatten einige Arien nach Noten gespielt und das Lied „Das alte Jahr vergangen ist“. In den Schilderungen von Bürgermeister und Schultheiß war der Silvesterumzug damals in Dertingen eher eine fromme Veranstaltung gewesen. Unfug habe keiner stattgefunden, so der Bürgermeister, und fügte noch feinsinnig hinzu, schließlich sei außer ihm und den Musikanten niemand unterwegs gewesen. Das leuchtet ein: Wenn ein Bürgermeister mitmacht, kann es kein Unfug sein. Nur die Regierung in Wertheim sah das anders. Sie fand die Entschuldigungen des Bürgermeisters „ganz irrelevant“ und verurteilte ihn zu fünf Talern Strafe.

1803 bekam die Furcht der Regierung vor Exzess und Unfug neue Nahrung. Denn nach der Aufhebung des Klosters Bronnbach waren die Klosterdörfer Reicholzheim und Dörlesberg wertheimisch geworden. Gefährliche Orte! Das Schießen in der Neujahrsnacht werde dort „auf eine höchst gefährliche Weise“ getrieben, fand die Regierung, und erließ noch am 22. Dezember 1803 ein Dekret, das das Schießen bei zehn Talern Strafe untersagte. Sollte geschossen werden, man die Täter aber nicht finden können, hatte die Gemeinde die Strafe zu zahlen. Und das Amt Bronnbach wurde angewiesen, in der Neujahrsnacht die Patrouillen zu verdoppeln.

Ein Schuss in der Stille des Taubertals

Geschossen wurde trotzdem, wenn auch nur in bescheidenem Rahmen. Ein einziger Schuss durchbrach die nächtliche Stille des Taubertals, abgefeuert gegen zwei Uhr nachts. Tatsächlich war die Patrouille der Landjäger auch um diese Uhrzeit noch unterwegs und begab sich sofort zum Tatort. Trotz ernsthaftester Ermittlungen gelang es aber nicht, den Täter zu stellen. Also wurde die Gemeinde zu zehn Talern Strafe verdonnert. Der Reicholzheimer Bürgermeister legte Einspruch ein. Er vermutete, den Schuss habe ein „nichts nütziger Bursch“ abgegeben, um die Gemeinde in Verruf zu bringen, während es doch eigentlich in dieser Silvesternacht in Reicholzheim „ganz still und ruhig“ gewesen sei. Die Patrouillen hätten keinen Menschen auf der Gasse angetroffen – das klang schon fast ein wenig traurig. Die Regierung in Wertheim ließ sich jedenfalls vom Bürgermeister überzeugen und sah angesichts des guten Willens und der Ruhe und Stille der Reicholzheimer von der Strafe ab. „Für diesmal“, wie hinzugefügt wurde.

Fünf Jahre später war die Grafschaft Wertheim kein eigenständiges Territorium mehr, aber die Sorge der Verwaltung wegen des Unfugs an Silvester war geblieben. Das badische Landvogteiamt erinnerte deshalb daran, dass die Ordnung in Wertheim auch in dieser speziellen Nacht aufrechterhalten werden müsse. Die Justizkanzlei der Fürsten Löwenstein wies daraufhin das Stadtamt an, in Wertheim bekannt zu geben, dass kein Unfug mehr geduldet werden würde. Was war mit „Unfug“ gemeint? Es ging um „Schwärmen, Lärmen und Schießen“, als Strafe wurden zehn Reichstaler oder 14 Tage Gefängnis angedroht. Und damit nicht genug: Das Stadtamt sollte in der Silvesternacht mindestens 50 Mann mit einem Gewehr bewaffnen und in der Stadt patrouillieren lassen. 50 Mann, das war enorm. Ob und wie die Wertheimer dann tatsächlich in der Silvesternacht 1808 schwärmten, lärmten und schossen, darüber schweigen die Akten. Vielleicht sorgten auch die 50 Mann für etwas Trubel und vertrieben die bösen Geister, indem sie ihre Gewehre einmal ausprobierten.

Auch am Ende des 19. Jahrhunderts zeigten sich wieder die typischen vorweihnachtlichen Aktivitäten der Verwaltung zur Bekämpfung der Silvesterexzesse. Dieses Mal allerdings in unvermuteter Richtung: Am 23. Dezember 1896 bekam die Stadtverwaltung vom Bezirksamt den Hinweis, dass man nichts dagegen habe, wenn in der Silvesternacht zwischen 12 Uhr und Viertel nach 12 die Aufsicht „etwas milder gehandhabt“ werde. War das nun der Freifahrtschein für allerlei Exzesse? Ereignete sich noch nie Dagewesenes in dieser Nacht? Man weiß es nicht. Vielleicht verzichtete die Stadtverwaltung darauf, den Hinweis an die Bevölkerung weiterzugeben, weshalb die Wertheimer gar nicht ahnten, was in dieser Nacht alles möglich gewesen wäre zwischen 12 und Viertel nach 12. Aktenkundig ist noch, dass in dieser Nacht um 12 Uhr die Glocken läuten sollten, und zwar für 10 Minuten. Von der katholischen Kirche kam prompt die Nachricht, man läute nur, wenn man läuten wolle und gegebenenfalls auf Wunsch des bischöflichen Ordinariates, aber auf Wunsch der Stadtverwaltung läute man nicht.

Bengalische Zündhölzer verboten

Im selben Jahr wurde die Sperrstunde in den Gastwirtschaften auf zwei Uhr festgesetzt. Solange durften die Wirtschaften offenhalten. Dagegen war das Abbrennen von Feuerwerk und Schießen mit Gewehren ebenso verboten wie das Neujahrsanwünschen durch Kinder, weil es als eine Form der Bettelei betrachtet wurde. Diese Regelungen wurden nun immer wiederholt. 1911 ordnete Bürgermeister Bardon an: „Wir sehen uns auch jetzt wieder veranlaßt, darauf hinzuweisen, daß das Entzünden von Feuerwerkskörpern und sog. Bengalischen Zündhölzern, besonders auch das Werfen derselben in das Publikum, verboten ist.“

1920 wurde der Verkauf von „Kanonenschlägern, Schwärmern und Fröschen“ generell untersagt, 1935 die Sperrstunde in der Neujahrsnacht auf drei Uhr verschoben. Im Jahr 1938 gab es eine überraschende Wende. Ein Erlass zum Schutz deutschen Brauchtums erreichte die Stadtverwaltung Wertheim: Böllerschießen in der Neujahrsnacht sollte als „wertvolles Kulturgut“ geschützt werden. Das war ein ganz neuer Ansatz in all den Jahrhunderten der Unfugsbekämpfung. Der Bürgermeister notierte dazu: „Das Böllerschießen in der Neujahrsnacht wurde, obwohl offiziell immer auf das Verbot hingewiesen wurde, nie geahndet. Andere Bräuche sind nicht überliefert.“ Und so beenden auch wir an dieser Stelle das alte Jahr mit der Einsicht, dass der ganze jahrhundertelange Kampf der Verwaltung gegen Unfug, Exzess und Böllerschießen zwar einerseits erfolglos war, dies aber andererseits nichts machte, weil man es sowieso nicht ernst gemeint hatte. Allerdings hört man auch jetzt, wo die Exzesse zum Kulturgut geworden waren, nichts davon, dass welche stattgefunden hätten.

Druck: Fränkische Nachrichten 30./31.12.2014