1932 berichtete Otto Langguth in seinen „Beiträgen zur Heimatkunde“ über den „Löwenstein’schen Herkules“. So wurde Graf Wilhelm Heinrich genannt (1715-1773), der riesenstark gewesen sein soll und zudem ein großer Künstler im Pistolenschießen und Fechten. Der schönste Beitrag über den Grafen handelt aber nicht von seinen Körperkräften, sondern von seiner Ehe.

Es soll nämlich seinerzeit im Wertheimer Tanzhaus eine Schauspielerin von wunderbarer Schönheit aufgetreten sein, für die Wilhelm Heinrich ein derartiges Faible entwickelte, dass seine Mutter ihn sicherheitshalber auf Reisen schickte. Er blieb überraschend lange fort, und in Wertheim hatte man keine Nachrichten von ihm. Dann kam ein Brief aus Prag: Wilhelm Heinrich hatte eine Braut gefunden. „Sie sei zwar nicht adeligen Stammes und Namens, doch habe sie in ihrer wunderbaren Schönheit einen von Gott selbst verliehenen Adelsbrief“, schrieb der Graf (so berichtet es jedenfalls Langguth). Die Familie beeindruckte die wunderbare Schönheit wenig, sie lehnte die Ehe ab. Wilhelm Heinrich scherte sich nicht drum und heiratete. Als er dann mit seiner Ehefrau nach Wertheim kam, wurde das Paar zunächst geschnitten. Aber mit Anmut und Gesang gewann die junge Frau die Herzen der Wertheimer. „Sie war von so zarter Schönheit, daß man den roten Wein, den sie trank, durch die Kehle schimmern sah“, schreibt Langguth, und: „Doch kam es verschiedenen Ratsherren so vor, als wenn die Gräfin und die junge Schauspielerin ein- und dieselbe Person sein müssten.“ Sei es, wie es sei: Schließlich akzeptierten alle die neue Gräfin und durch einen Trick wurde auch der älteste Bruder Graf Vollrath gewonnen, der zunächst geschworen hatte, das Haus seines Bruders nie mehr zu betreten. Das Paar wohnte übrigens nach Langguth „in einem weitläufigen Anwesen Ecke Mühlenstraße und Rittergasse“.

Eine schöne Geschichte! Aber kann sich etwas derart Romantisches wirklich in Wertheim zugetragen haben? Oder gehört diese Geschichte einer Liebe über alle Standesgrenzen hinweg nicht doch in den Bereich der Sagen und Legenden? Zumal Otto Langguth hier aus der Überlieferung der Wertheimer Sagen schöpft, die Andreas Fries im 19. Jahrhundert aufgeschrieben hatte.

Hier nun die gute Nachricht für alle Romantiker: Die Geschichte hat sich wirklich zugetragen. Jedenfalls so ähnlich. Es gibt zur Heirat des Grafen Wilhelm Heinrich nämlich auch echte Akten. Völlig unromantische Prozessakten, die sich heute im Staatsarchiv in Bronnbach befinden. Doch der Reihe nach.

Das Mariandel erscheint in Wertheim

1749 kam eine wandernde Komödiantentruppe nach Wertheim. Unter den Schauspielerinnen war eine junge Frau, die gut singen und tanzen konnte. Sie hieß Mariandel. Als die Truppe Wertheim verließ, war Mariandel verschwunden.

Zwei Jahre später heiratete Graf Wilhelm Heinrich, der jüngste von fünf gemeinsam regierenden Brüdern der evangelischen Grafenlinie, die Freifrau Anna Maria Constantia von Wilson und Waldgon. Die Trauung nahm merkwürdigerweise der Pfarrer von Michelrieth, Johann Michael Dennscherz vor (derselbe übrigens, der 1731 die uneheliche Tochter des Grafen Ludwig Moritz getauft hatte). Noch merkwürdiger: Niemand aus der Familie war eingeladen. Es war eine „heimliche Heirat“. Auf das Ereignis folgten zehn Jahre, in denen man von der Ehefrau des Grafen nichts erfährt.

Wilhelm Heinrich selbst dagegen tat einiges dafür, seinen Namen in Akten für die Nachwelt festzuhalten. Unmengen von Papier künden noch heute von den Streitigkeiten mit seinen Brüdern. Ein Beispiel: Wilhelm Heinrich befahl den Schultheißen der Grafschaft, die ihm zustehenden Abgaben direkt bei seinem Wirtschaftsmann abzugeben. Die Brüder klagten dagegen beim Kaiser und erreichten ein Mandat, demzufolge alle Untertanen und Amtleute Befehlen nur dann Folge leisten mussten, wenn sie von der Mehrzahl der Grafen ausgegeben wurden. Wilhelm Heinrich focht das nicht an. Er bezeichnete das Mandat als ungültig, weil der Kaiser es nicht unterschrieben habe. Später versuchten die Brüder, die gegenseitige Lähmung durch Einführung des Mehrheitsprinzips in der gräflichen Kammer zu überwinden. Wilhelm Heinrich klagte dagegen beim Reichskammergericht in Wetzlar. Denn schließlich war er Reichsgraf von Gottes Gnaden und Regent der Grafschaft Wertheim, den man nicht so einfach übergehen konnte. Es waren jene Jahre, in denen Wilhelm Heinrich einmal bemerkte, „daß aus unseren persönlichen Beratschlagungen ... ehender ein Labyrinth als ein Conclusum entstehe.“ Vermutlich hatten nur die Advokaten wirkliche Freude an diesen Verfahren zwischen den Brüdern.

1764 erreichte in einem solchen Prozess dann auch die Ehefrau des Grafen Wilhelm Heinrich den Reichshofrat in Wien. Die älteren Brüder klagten sie an: Die Sache mit Wilson und Waldgon sei ein Schwindel und Anna Maria Constantia sei niemand anderes als die Schauspielerin Mariandel. Wilhelm Heinrich soll sie beim Besuch der Komödiantentruppe „heimlich hinweg geführt“ und sie dann beim Türmer auf der Burg versteckt haben. Später sei sie dann wiederaufgetaucht, wundersam in eine Mademoiselle verwandelt. Alle diese Umstände seien in Stadt und Grafschaft Wertheim allgemein bekannt und so notorisch wie es gewiss sei, dass die Tauber bei Wertheim in den Main fließe. Als Zeugen für den Wandel der Schauspielerin Mariandel zur Freifrau von Waldgon werden eine Schulmeisterin aus Ansbach sowie ein Hohenloher Jäger und dessen Frau angeführt. Im Grunde seien Zeugen aber ganz unnötig, weil schließlich alle in Wertheim wüssten, dass sie bei der Brönnerschen Truppe „als Comoediantin sowohl gespielet und gesungen als auch getanzet“ habe – so schrieben die Brüder des Grafen Wilhelm Heinrich über dessen Frau. Man wird die Beobachtung hinzufügen können, dass die Brüder sich mehr als zehn Jahre lang an der Mésalliance nicht groß gestoßen hatten. 1764 aber war, zusätzlich zu den ganzen Regierungsquerelen, auch dieses Fass übergelaufen, weil Wilhelm Heinrich es gewagt hatte, das Mariandel bei der Hochzeit zweier Bedienter öffentlich als Exzellenz bezeichnen zu lassen. Eine Bürgerliche als Exzellenz, da ging den Brüdern der Hut hoch.

Die Geschichte der Freifrau von Waldgon

Doch wer war sie denn nun wirklich, die Frau des Grafen Heinrich? War sie die Freifrau Anna Maria Constantia von Wilson und Waldgon oder das Mariandel aus der Schauspieltruppe? Das fragten sich damals auch die hohen Richter in Wien. Wilhelm Heinrich jedenfalls verwahrte sich gegen die „abscheuliche Lästerschrift“ seiner Brüder und erhob seinerseits Gegenklage wegen schwerster Beleidigung. Die wahre Geschichte des Lebens seiner Frau beschrieb er so: Mutter seiner Frau war die Freifrau Amalie Charlotta von Wilson und Waldgon, geb. Gräfin von Kuhn. Ihr Großvater Freiherr Eduard von Waldgon hatte sich in der kaiserlichen Armee ausgezeichnet. Der Sohn dieses Waldgons, also der Vater Anna Marias, wurde in Wien in eine Eifersuchtsgeschichte verwickelt, tötete in Notwehr einen spanischen Nebenbuhler und musste nach Venedig flüchten. Später Offizier in Riga, starb er 1750 in Mannheim. Die Witwe ging mit zwei Kindern nach Mainz und 1761 nach Wien, wo sie in einem Vorzimmer von Schloss Schönbrunn einen Schlaganfall erlitt und starb. Der von Joseph Zandonatti, Pfarrer in Penzing, ausgestellte Totenschein wurde den Akten in Kopie beigelegt. Dort findet sich auch ein Schreiben der Witwe Amalia de Waldgon an den Mainzer Erzbischof, in dem sie um Unterstützung bittet. Sie sei eine betrübte Witwe mit vier Waisenkindern, geboren in Stockholm, aufgezogen am Königshof Schweden, verheiratet mit dem Wiener Kavalier Waldgon, der mit kaiserlicher Bewilligung in Moskauer Dienste getreten war, für sieben Jahre nach Persien ging, von den Türken gefangen wurde um dann wieder in kaiserliche Dienste zu treten. Sie habe ihre gesamte Equipage verloren und nähre sich und ihre Kinder nun schon zwei Jahre in Mainz kümmerlich durch Handarbeit, so heißt es in diesem Brief der Schwiegermutter Wilhelm Heinrichs an den Mainzer Erzbischof.

Eine tolle Geschichte. Eine famose Räuberpistole zwischen Stockholm, Moskau, Persien und Venedig. Doch leider alles gelogen. Für uns heutige ist die Sache wesentlich einfacher als für die Richter in Wien im Jahr 1764. Wir suchen den Adelstitel „Wilson und Waldgon“ im Internet und finden genau einen einzigen Nachweis, nämlich in den Akten des Staatsarchivs Wertheim. Das bedeutet: Diesen Titel gab es nicht, und die älteren Brüder hatten schon Recht, wenn sie das Mariandel nicht als ebenbürtig akzeptieren wollten. Die Herkunft der „Wilson und Waldgon“ hatten sich Wilhelm Heinrich und sein Mariandel schön ausgedacht. Die Unterlagen in den Akten waren getürkt.

Mit Kindern war ihre Ehe übrigens nicht gesegnet. 1769 traf Wilhelm Heinrich Vorkehrungen für den Fall seines Todes. Jeder überflüssige Prunk sollte vermieden werden und seine Frau sollte sich in diesem Fall ihren Wohnsitz selbst wählen dürfen – eine Regelung, die ihren Grund gewiss in den Querelen mit den Brüdern hatte. Wilhelm Heinrich fürchtete, sie würden seine Witwe nach seinem Tod aus dem Haus werfen. 1772 hatte sich sein Gesundheitszustand wohl weiter verschlechtert. Mit aller Kraft suchte Wilhelm Heinrich nun den Ausgleich mit seinen Brüdern, um seine Frau für den Fall seines Todes abzusichern. Er wolle, schrieb der Graf an seine Brüder, seiner Frau „ein einer verwittibten Gräfin von Löwenstein-Wertheim gebührendes Wittum lebenslänglich .. bestimmen”, außerdem solle „aufrichtige Freundschaft“ zwischen den Brüdern wiederhergestellt werden und alle „Bekränkungen und Dissidia“ in Zukunft unterbleiben. Unter den „Dissidia“ oder Streitpunkten war zu verstehen: Gleichstellung der Brüder, Häuser- und Güterteilung, Einrichtung einer ordentlichen Regierung, „welches zu Wiederherstellung der brüderlichen Vereinigung und heilsamen Wohlfahrt des Landes eine Grund-Säule abgeben kann“, so Wilhelm Heinrich.

Wirklich regierende Gräfin

Für sein Mariandel wollte Wilhelm Heinrich nicht nur eine Pension erreichen, sondern auch ihre Anerkennung als „wirkliche regierende Gräfin des Hauses“ durchsetzen. Graf Vollrath, ältester der Brüder und damit Senior des Hauses, fand das völlig unmöglich. Wir haben hier den realen Hintergrund für die Darstellung des ältesten Bruders in der eingangs berichteten Erzählung. Im weiteren Verlauf der Verhandlungen bezog er dann eine moderatere Position: Wenn die „Frau Eheconsortin“ auf Wappen- und Titelführung sowie auf sonstige Rechte einer Reichsgräfin verzichte, dann stehe einer Pensionszahlung von seiner Seite nichts entgegen, ja er versicherte sie seiner „Protection und Assistence“.

Am 11. September 1773 kam es tatsächlich zu einem Vergleich zwischen den Brüdern. Alle laufenden Prozesse sollten gütlich beigelegt werden. Zur Frage der Ehefrau heißt es im Vergleich: Alle Klagen im Zusammenhang mit der Ehefrau sollen als „niemalen existent“ betrachtet werden. Die Ehefrau soll als eine Gemahlin und Gräfin angesprochen und geehrt werden, im Witwenfall 1000 Gulden jährlich erhalten und in einem Haus in der oberen Eichelgasse wohnen, dessen Bauunterhalt die Familie zahlt. Persönlicher Umgang mit ihr hat aber zu unterbleiben und eventuell noch auftauchende Kinder sollen so lange nicht erbberechtigt sein, bis die Ehefrau ihre angegebene Herkunft nachgewiesen hat. So lange dieser Nachweis fehlt, darf Anna Maria sich in keiner Kirche der Grafschaft Wertheim „als eine vermählte Gräfin praediciren“ lassen. Graf Wilhelm Heinrich unterschrieb diese Regelung. Im Gegenzug verlangte er von seinen Brüdern, dass diese Vereinbarung geheim bleiben sollte, was sie ihrerseits unterschrieben. Auch das Begräbnis wurde geregelt, ein letzter wichtiger Akt symbolischer Selbstbehauptung. Wilhelm Heinrich und seine Frau erhielten nicht nur einen „Gitterstand“ auf der Empore der Stiftskirche rechts unter der Orgel, sondern beiden wurde ein Begräbnis in der Kirche unterhalb dieses Gitterstands zugestanden. Insgesamt ist der Vergleich, was die Position der Ehefrau angeht, ein Kompromiss: Unterhalt, Versorgung und gegebenenfalls Begräbnis in der Stiftskirche ja, aber bis auf weiteres keine offizielle Anerkennung als Wertheimer Gräfin.

Vermutlich war Graf Wilhelm Heinrich bei Abschluss des Vergleichs bereits kränkelnd. Er starb bald darauf. Immerhin war es dem „Löwensteinischen Herkules“ schließlich gelungen, die Versorgung seiner Witwe sicherzustellen. Problematisch an dem Vergleich war aus Sicht der Witwe, dass Graf Vollrath ihm nicht zugestimmt hatte. Deswegen erhob sie nun ihrerseits Klage in Wien, und schließlich erreichte das Mariandel bzw. die Gräfin Anna Maria, dass ihre Wertheimer Schwäger ihr fortan eine Pension von 500 Gulden zahlten.

Die letzten Jahre

Nach dem Tod Wilhelm Heinrichs erhob sich ein wahrer Sturm von Forderungen der Gläubiger des Grafen. Bestürmt wurde interessanterweise Anna Maria, die nun doch als Erbin galt, jedenfalls, was diese Forderungen betraf. Da forderte etwa ein Dr. Schaller 3000 Gulden aus Tätigkeiten als Leibarzt des Grafen und beim Metzger Schubert war seit 1760 ein Rückstand von 260 Gulden aufgelaufen. Der Spitalsverwalter Käser hatte Wilhelm Heinrich immer seine sechs Pferde vor die Kutsche gespannt, weil Anna Maria so gerne damit herumgefahren war, und dann feststellen müssen, dass ihm nur zwei Pferde bezahlt wurden. Der Kammerdiener Benedikt Müller hatte Forderungen, weil er seinerzeit mit Anna Maria auf drei Monate nach Wien gereist war (wir dürfen vermuten: in ihrer Titelsache), woraus dann elf Monate wurden, in denen „die gemachte Hoffnung von Douceurs sich auch in ein Nichts verwandelt hat.“ Bemerkenswert auch eine Klage der Tochter des bereits erwähnten Pfarrers Dennscherz: Ihr Vater hatte 1771 dem Grafen Wilhelm Heinrich seine gesamten Ersparnisse – bescheidene 55 Reichstaler – anvertraut, damit dieser damit im Falle seines Todes seine Witwe unterstütze. Nun war die Witwe nur acht Wochen nach Dennscherz gestorben, Wilhelm Heinrich war auch tot und Anna Maria wollte von dem Geld nichts wissen und schon gar nicht zahlen. Baron Halbritter, der bei Anna Maria recht bald nach dem Tode ihres Mannes dessen Platz übernommen hatte, musste sich nun mit alldem herumschlagen. Im Fall des Pfarrers Dennscherz machte er geltend, Wilhelm Heinrich habe dem Pfarrer einst eine Flinte samt Pulver und Blei geliehen, die sei auch noch nicht zurückgegeben. Wir bekommen hier einen Blick auf das Zusammenleben von Adel, Pfarrer und Bürgertum in Wertheim, dessen Details man manchmal gar nicht wissen möchte.

Durch die neue Heirat erledigte sich glücklicherweise die Frage, wie man Anna Maria ansprechen sollte. Der neue Ehemann Hauptmann Halbritter war ein Würzburger Militär, der seinerseits bald verstarb. Frau von Halbritter wohnte fortan in Würzburg, wohin die Wertheimer bis Ende der 1780er Jahre die Pension auszahlten. Dafür musste die Witwe jeweils eine Lebensbescheinigung nach Wertheim schicken. So entstanden ordentliche Akten über eine doch eher unordentliche Geschichte, in der ein Graf sich in eine Schauspielerin verguckt, die dann fast zwanzig Jahre als seine richtige Frau, aber falsche Gräfin in Wertheim mit ihm lebte. Von ihrer wunderbaren Schönheit ist in diesen Akten leider nicht die Rede.

Ebenso schweigen sie von ihrem Gesang und ihrer Zartheit, die so groß war, „daß man den roten Wein, den sie trank, durch die Kehle schimmern sah“.