Der Spitze Turm, ein Wahrzeichen Wertheims

Eindrucksvoll steht er am Zusammenfluss von Main und Tauber, doch über die Geschichte des Spitzen Turmes ist eigentümlich wenig bekannt. Dies dürfte auch damit zusammenhängen, dass die Unterhaltung von Stadtmauer und Türmen schon früh Aufgabe der Stadt wurde. In den fürstlichen Archiven haben sich deshalb keine Bauunterlagen erhalten.

Nur selten ist in den Gerichtsunterlagen vermerkt, dass der Delinquent im Spitzen Turm einsaß. Eine Ausnahme stellen z. B. die Münzfälscher dar, die in der Kartause Grünau eine Werkstatt betrieben hatten und reichsweites Aufsehen erregten (siehe Münzfälscher in der Kartause Grünau). Sie saßen 1572 im Spitzen Turm nicht nur ein, sondern wurden dort auch gefoltert. Der Spitze Turm konnte es aber noch auf anderem Weg in die fürstlichen Akten schaffen: Wenn nämlich jemandem die Flucht gelang. So wie dem Wertheimer Bürger Andreas Kunau, der wegen sexueller Verfehlungen dort eingesessen hatte, als auch noch seine Frau überraschend starb. Wertheim munkelte: Giftmord durch den Gatten. Kunau stritt zwar alles ab, entzog sich dem weiteren Verfahren aber durch Flucht. Schwer war das nicht. Er habe die Tür offen gefunden, sagte er später. Die Wertheimer Obrigkeit hatte den Verdacht, dass dabei der Gerichtsknecht nachgeholfen hatte. Möglicherweise seinerseits beeinflusst durch Kunaus Verwandtschaft, die recht wohlhabend war.

Aus den folgenden Jahrzehnten gibt es nur ganz vereinzelte Nachrichten über Inhaftierungen im Spitzen Turm. 1621 saß Ambrosius Kitting dort ein, der Wertheimer Stadtschreiber und Notar, der sich wegen Bestechlichkeit und Unterschlagung verantworten musste(siehe Stadtschreiber Kitting auf Abwegen). Er kam schließlich frei.

1659 war der 18-jährige Jude Mose aus Prag wegen eines Diebstahls in Niklashausen im Spitzen Turm inhaftiert. In diesem Zusammenhang sagte der Spitze-Turm-Knecht (allgemein bekannt als „Turmpeter“) aus, während der vergangenen zehn Jahre gar nicht oben gewesen zu sein. Der Spitze Turm war wohl wenig in Gebrauch.

Mose aus Prag jedenfalls war ein Vagabund. Seit zwei Jahren reiste er in Deutschland herum, hatte u. a. in Hamburg bei einem Portugiesen gearbeitet. Auch der Spitze Turm konnte ihn nicht halten. Zacharias Scholl beobachtete, wie einer „die Füß zum Laden hinaus stellte“ und sich dann an einem Seil herabließ, die Hände mit Lumpen umwickelt. Scholl meinte aber, den Sohn des Spitze-Turm-Knechts gesehen zu haben, und unternahm nichts. Mose aus Prag tauchte nie wieder in Wertheim auf.

Allerdings soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, die Flucht aus dem Spitzen Turm sei ein Kinderspiel gewesen. Eher war das Gegenteil der Fall. Der ebenerdige Zugang zum Turm wurde erst in der Nazizeit durch die Mauer gebrochen, als der Turm der Hitlerjugend dienen sollte. Vorher war der einzige Zugang in luftiger Höhe, und die Inhaftierten wurden im Turm selbst wieder tief nach unten gelassen. Ohne Seil ging da gar nichts, eine Flucht war praktisch unmöglich. Außer eben, man bekam Hilfe. Auch im Fall des Juden Mose wurde darüber spekuliert, der Gerichtsknecht habe ihm geholfen. Vermutlich war die Bestechlichkeit des Gerichtspersonals die einzige Hoffnung, wenn man unten in den Tiefen des Spitzen Turms gelandet war.

Richtig in Gefahr geriet der Spitze Turm im Jahr 1804. Landbaumeister Streiter fand ihn nämlich hässlich. Er schlug vor, den Turm auf die Hälfte zu verkleinern und dann bei Hochwasser Pechfeuer oben zu entzünden, um gute Beleuchtung zu haben. Der Stadtmagistrat fand diesen Vorschlag abwegig und glaubte auch, dass „der sogenannte Spitze Turm die Stadt eher verschönere, als derselben ein häßliches Ansehen gebe.“ Diese Ansicht und allgemeiner Geldmangel retteten den Turm und er konnte bleiben, wie er war.

Bei der schlechten Quellenlage ist es ein besonderes Glück, dass im Archiv in Bronnbach jetzt eine Skizze aufgetaucht ist, die wohl den Spitzen Turm samt Umgebung zeigt. Einige Worte auf der Rückseite des Blattes könnten auf die Zeit um 1600 datiert werden. Sie halten Häuserpreise fest – möglich, dass sie sich auf die Häuser auf der Skizze beziehen.

Druck: Fränkische Nachrichten 8.7.2015