Vockenrot feiert in diesem Jahr 800 Jahre Ersterwähnung. Walter Schlessmann hat eine eindrucksvolle Dokumentation zu diesen 800 Jahren zusammengestellt. Sein Werk ist auch das erste Häuserbuch zu einem Ort der Grafschaft Wertheim überhaupt, also eine Geschichte der Hofreiten und ihrer Bewohner. Der folgende Beitrag der "Bronnbacher Archivalien" betrachtet die Geschichte Vockenrots aus anderen Blickwinkeln.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Ranglisten zu den Orten der Grafschaft Wertheim zu erstellen. Eine davon sind Unterlagen, die zur Erhebung der Steuern angefertigt wurden. 1618 gab es in Vockenrot acht Haushalte, drei Jahre später wurden neun Männer, zwölf Frauen, vierzehn Töchter und zehn Knaben als Bewohner gezählt. Diese wenigen Personen konnten natürlich keine große Steuerkraft entfalten. 1634 etwa sollten Dertingen und Nassig als größte Grafschaftsdörfer je 231 Gulden Frongeld (also Abgaben für Leibeigene) zahlen, Kreuzwertheim lag mit 67 Gulden etwa im Mittelfeld und Vockenrot mit 22 Gulden auf dem vorletzten Platz. Nur Oedengesäß mit 19 Gulden brachte den Herren der Grafschaft noch weniger Frongeld ein. (Mit dem Frongeld sah es in diesen Jahren ohnehin schlecht aus. Die Dörfer waren durch Einquartierungen und Pest stark belastet. Dertingen zahlte von den geforderten 231 Gulden nur 42, Vockenrot gar nur vier.) 1677 gab es in Vockenrot nur noch fünf männliche Untertanen mit eigenem Haushalt (plus drei Witwen), die gleiche Zahl wie in Oedengesäß. Zum Vergleich wieder Dertingen mit 72, Nassig mit 50 und Sachsenhausen mit 22 männlichen Untertanen. Als der Schultheiß 1708 die männlichen Untertanen fürs Militär zählte, kam er auf 15 Männer in Vockenrot. In den 1720er Jahren hatten die Wertheimer Grafen dann 23 Leibeigene im Ort. Die Zahl war also im Vergleich zum Jahrhundert davor gestiegen, blieb aber bescheiden. Bei Einwohnerzahl und Steuerkraft waren Vockenrot und Oedengesäß immer die kleinsten Orte der Grafschaft.

Das damalige System der Frondienste war kompliziert und – aus heutiger Sicht – wenig flexibel. Wenn die Wertheimer Grafen ein Transportproblem hatten, also durchkommende Truppen befördert werden mussten, Baumaterial transportiert oder Getreide abzufahren war, dann forderten sie Frondienstleistende samt deren Gespannen an. Manchmal kam niemand, und nichts konnte geschafft werden. Auch bei den Frondiensten zeigt sich die geringe Größe Vockenrots. So mussten die Nassiger den Wertheimer Grafen im Jahr 1633 insgesamt 87 Fuhren mit Pferden leisten. In Vockenrot gab es damals nur vier Einwohner, die zu Frondiensten mit eigenen Pferden verpflichtet waren, und dazu fünf "Handfröner" mit der Verpflichtung zu drei Tagen Handarbeit im Jahr auf dem Feld oder im Weinberg. Zum Vergleich: Sachsenhausen zählte 8 Fuhrfröner (sieben mit Pferden plus 1 Ochse) und 26 Handfröner. Nassig kam allein schon auf 30 Fuhrfröner mit 64 Pferden. Die Armut Vockenrots zeigt sich auch bei den Zahlungen, die im Dreißigjährigen Krieg während der schwedischen Besetzung Frankens ans Militär zu leisten waren. Anfang März 1633 war hier Dertingen mit wöchentlich 59 Gulden dabei, Höhefeld zahlte 19 und Nassig 18 Gulden, während Vockenrot wiederum gemeinsam mit Oedengesäß und zwei Gulden den letzten Platz belegte.

An dieser Situation änderte sich auch im 18. Jahrhundert nichts. Als 1710 eine Beschreibung aller Grafschaftsdörfer aus Steuergründen angefertigt wurde, gehörten zu Vockenrot mit seinen 19 Haushalten knapp 100 Morgen Land, zu Sachsenhausen mit 45 Haushalten 234 Morgen. Damit lagen Sachsenhausen und Vockenrot zwar etwa gleichauf, was die Fläche pro Bewohner angeht, im Gesamtranking der Grafschaft allerdings ziemlich weit hinten. Das zeigt der Vergleich mit Nassig: 70 Haushalte und 961 Morgen, im Verhältnis weit mehr als das Doppelte an Fläche pro Einwohner als in Vockenrot.

In einer anderen Liste, aus der sich die Entwicklung der Grafschaftsorte über Jahrhunderte vergleichen lässt, erscheint Vockenrot leider gar nicht. Gemeint ist der Jahresverbrauch an Kommunionwein in den Kirchen. Im Rechnungsjahr 1616/17 wurden da in Bettingen fünf Maß abgerechnet, in Kreuzwertheim 8 Maß und in Reicholzheim 12 Maß. Angaben zu Vockenrot fehlen, weil die Gemeinde zur Pfarrei Sachsenhausen gehörte. Spitzenreiter in dieser Liste war übrigens die Pfarrei Michelrieth mit 17 Maß. Zu dieser Pfarrei gehörten sämtliche Spessartorte.

Nach all diesen Zahlen nun zu einem Bereich, in dem Vockenrot im Grafschaftsvergleich ziemlich weit vorne lag. Ein Bereich, um den sich sogar Graf Ludwig zu Löwenstein, der erste Löwensteiner an der Spitze der Grafschaft Wertheim, persönlich kümmerte, weshalb Vockenrot in seinen Weisungen an den Vogt Hans Bauch immer wieder und ganz regelmäßig vorkam. Die Löwensteiner betrieben nämlich etwa seit dem Anfang des 17 Jahrhunderts (also etwa zeitgleich mit dem Aufbau des Neuhofs, wie man bei Walter Schlessmann nachlesen kann) in Vockenrot eine Schäferei. Neben der Schäferei auf dem Haidhof war dies die größte Schafzucht der Grafschaft. Wenn die Schur der Schafe anstand, ließ Graf Ludwig sich immer alles berichten. Zweimal im Jahr musste der Verwalter die Schafe zählen und dabei auf „Betrüglichkeit“ achten – Graf Ludwig traute den Vockenroter Schafknechten offenbar nicht so recht über den Weg. Die Sommerzählung 1623 ergab einen Bestand von 477 Tieren, davon 71 Lämmer und 168 „alte Hämmel“. 1602 waren es 523 Tiere gewesen, davon 120 Hämmel. Der Sommer 1607 zählte gar 652 Schafe in Vockenrot, davon 140 alte Hämmel. Beachtliche Zahlen! Damit lag man nur ein wenig unter den Zahlen des Haidhofs. Und man kann sagen, dass die Zahl der alten Hämmel in Vockenrot die der Einwohner erheblich übertraf. Ähnlich sah es bei der Wolle aus. 1607 ergab die Schur vier Säcke mit 971 Pfund Wolle, davon 26 die besondere Lammwolle. Der Haidhof kam auf 1170 Pfund. Die Wolle wurde verkauft. Mancher Bewohner der Grafschaft wird in einem Gewand herumgelaufen sein, dessen Rohstoff aus Vockenrot gekommen war.

Pferde gab es auf dem Hof Vockenrot auch. Im November 1602 schrieb Graf Ludwig an seinen Verwalter Hans Bauch, da nun der Winter komme, brauche man die Pferde auf dem Hof ja nicht, weshalb er ihm drei aus Vockenrot nach Breuberg schicken solle. 1601 verlangte er, der Ziegler aus Vockenrot solle seine „Ziegelbretter“ nach Breuberg schaffen. Der Ziegelmacher hieß Martin Pless. Er sollte auch selbst auf den Breuberg kommen und den dortigen Zieglern helfen. 1603 ärgerte sich Graf Ludwig einmal über den Vockenroter Hofbauern und beauftrage den Verwalter, er solle den Hofbauern „wegen seiner Langsamkeit hart anreden“.

Mit seiner Schäferei wäre Vockenrot in der Grafschaft einmalig gewesen, wenn es den Haidhof nicht gegeben hätte. Genau so sah mit dem herrschaftlichen See aus. Einen solchen gab es neben Vockenrot nur noch in Michelrieth. Vier bis sechs Schuh tief, eingefasst von einem Damm und Wänden auf den Seiten diente der Kolbensee seit etwa 1610 der Fischzucht. In Schuss gehalten wurde er von „Seegräbern“, von denen sich manche Arbeitsverträge erhalten haben. Walter Schlessmann hat die Geschichte des Kolbensees genau dokumentiert.

Zum Abschluss nochmals eine Art frühe Statistik, in der Vockenrot vorkommt. Sie ist nicht eigentlich schön, aber in den vielen Jahrhunderten menschlichen Zusammenlebens auf der Höhe sind eben auch unschöne Dinge passiert. Es existiert eine Art Kriminalregister der Grafschaft Wertheim für das Jahrzehnt zwischen 1601 und 1610. Vockenrot ist hier zwei Mal vertreten: 1604 hat ein Schäfer aus Vockenrot mit der Frau seines Bruders geschlafen. Das hieß damals Blutschande. Der Schäfer musste in Wertheim am Pranger stehen, wurde mit Ruten geschlagen und musste die Grafschaft verlassen. Die zweite Straftat war ein Suizid (wie überhaupt Selbsttötungen häufig sind in diesem Register): Der „lange Michel“ stach sich 1607 mit dem Messer in den Bauch und starb erst nach zwei Stunden. Auch bei den Anzeigen (damals „Zentrügen“, genannt) des Jahres 1606 erscheint Vockenrot mit einer Meldung: Debes Rücker hatte zu Debes Pähl gesagt: „Du loser Hudler, sollte ich mich immer von dir lassen hudlen“. Darauf hatte der Pähl dem Rücker geantwortet: „Du bist selber ein Hudler.“ Hudler heißt so viel wie Lump und war eine gängige Beleidigung, wenn auch nicht allzu scharf. Es ist dies die einzige Anzeige aus Vockenrot in diesem Jahr. Ein eher ruhiges Jahr also dieses 1606, fast genau in der Mitte gelegen zwischen der Ersterwähnung 1212 und dem Jubiläumsjahr 2012.

Druck: Fränkische Nachrichten 29.3.2012