Bis heute prägt dieser Bau den Anblick der Wertheimer Burg: das Neue Archiv. So heißt das Gebäude, das weithin sichtbar über dem Tor der Burg steht. Es ist der einzige Bau, der nach der Zerstörung im 30jährigen Krieg neu auf der Burg errichtet wurde. Und es ist eigentlich ein Wunder, dass dieser Bau noch steht. Denn man hatte ihn schon als Bauruine aufgegeben. Verantwortlich für das Desaster war Tilman Ruland, jener Architekt des 18. Jahrhunderts in Wertheim, der vor allem durch großartige Pläne, aber kaum durch gelungene Bauten aufgefallen ist. Ruland wurde im Sommer 1741 Hofbaumeister des Fürsten Carl Thomas zu Löwenstein und begann 1742 mit der Errichtung des neuen Archivs. Das Gemeinschaftliche Archiv war damals im Rathaus in der Stadt (heute Grafschaftsmuseum) untergebracht. Dort war es aber nicht gut benutzbar und außerdem fürchtete man die Feuersgefahr in der Altstadt. Im Februar 1742 bekam der Rentmeister die Anweisung, dass mit dem Bau auf der Burg begonnen werden sollte. Teil der Planungen war ein „kleiner Saal“ im zweiten Stock, in dem Fürst Carl Thomas im Sommer „wegen schönen Prospects sich divertiren“ wollte. Wenn man sich ein wenig wie Carl Thomas fühlen will, kann man diesen Saal heute bei der Stadt Wertheim anmieten. Am wunderbaren Blick über die Stadt und Main und Tauber, damals als „schöner Prospect“ bezeichnet, hat sich nichts geändert.

Die Lösung: Zusammenfallenlassen

Drei Jahre lang wurde gebaut. Maurer und Steinhauer kamen, Zimmermänner und Schreiner. Fast alle Handwerker stammten aus Wertheim. 1744/45 brachte ein gewisser Johann Georg Stettner den Stuck in dem Saal im oberen Stock an. Im Winter 1745 zeigten sich erste Baumängel. Im Februar schrieb Ruland, man müsse unbedingt den Schnee vom oberen Boden entfernen, weil sonst bei Schneeschmelze die darunterliegende Saaldecke leiden würde. Außerdem sollte der Schieferdecker seine Fehler ausbessern und die Löcher im Ziegeldach sollten mit Speiß geschlossen werden. Nachrichten dieser Art gab es nun Jahr für Jahr vom Neuen Archivbau. 1751 wurden wieder Sturmschäden gemeldet: Schiefer fehlte, Dachziegel waren lose. Die Mängel machten einen Bezug des Archivbaus unmöglich. 15.000 Gulden waren verpulvert worden, die Kosten für die Reparaturen nach 1745 noch gar nicht eingerechnet. 1758, also 16 Jahre nach Baubeginn, kehrte endgültig Resignation ein. Nach neuerlichen Sturmschäden gab die fürstliche Hofkammer die Hoffnung auf, den Bau jemals gebrauchen zu können. Weitere Investitionen sollten unterbleiben. Also wurde beschlossen, den Bau „wieder zusammen fallen zu lassen“. Es war ein einzigartiges Debakel für die Wertheimer Baubehörden. Ruland war da bereits einige Jahre tot.

In den folgenden Jahrzehnten stellte sich dann allerdings heraus, dass das „Zusammenfallenlassen“ nicht funktionierte. Obwohl nichts repariert wurde, blieb der Bau stehen. Jahre kamen und gingen. 1774 verfasste der Rentmeister Götz ein Gutachten, in dem er feststellte, es regne überall hinein und im Gebäude verfaule das Holz. Der Rentmeister setzte hinzu, man wisse ja nicht, zu was der Bau einmal noch gut sein könnte und ordnete die Reparatur des Daches an.So überlebte der Archivbau die Jahrzehnte ungenutzt und als Ruine. Aber immerhin: er überlebte. Ende der 1780er Jahre gab es wieder Überlegungen, das Archiv tatsächlich umzuziehen. Grund dafür dürfte die verstärkte Zusammenarbeit der beiden Linien in dieser Zeit gewesen sein, die auch zu einer stärkeren Nutzung des Archivs führte. Nach den Jahrzehnten als Bauruine musste nun allerdings erheblich investiert werden. Decken waren eingestürzt, das Dach schadhaft, Öfen fehlten.

1789: Archivumzug

Tatsächlich geschah 1789 das Unglaubliche: Die Urkunden und Akten des Gemeinschaftliche Archivs zogen in den Archivbau auf der Burg ein. Fast ein halbes Jahrhundert war seit dem Baubeginn vergangen. Und es war just das Jahr, in dem die Revolution in Frankreich die Welt veränderte und schließlich den kleinen Territorien des Heiligen Römischen Reichs wie der Grafschaft Wertheim das Ende brachte. Damit wurden die Herrschaftsansprüche, die in den Unterlagen des Archivs festgehalten waren, Makulatur. Eigenartigerweise prägt nun ausgerechnet ein Bau, den man schon aufgegeben hatte, das Bild der Burg über der Stadt bis heute. Dass vom großen Plänemacher Tilman Ruland keine weiteren Bauten bekannt geworden sind, war nach den Erfahrungen mit dem Neuen Archiv wahrscheinlich besser so.

Druck: Fränkische Nachrichten 9.11.13