Einmal morgens als Bürgermeister aufwachen! Diesen Traum träumen viele, aber nur wenige können ihn verwirklichen.

In den Zeiten des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation wurde man in Wertheim durch Vorschlag des Stadtrats Bürgermeister. Der Stadtrat reichte bei den Wertheimer Grafen bzw. Fürsten eine Liste mit vier Namen aus seinen Reihen ein, aus denen die Grafen die zwei Bürgermeister auswählten und ins Amt einsetzten. Das war auch damals schon eine große Ehre, die allerdings einen Haken hatte: Für manche Löcher in der Stadtkasse mussten die Bürgermeister mit eigenem Geld geradestehen.

Normalerweise lief die Bestellung der Bürgermeister problemlos. Aber manchmal traten auch Schwierigkeiten auf. So im Jahr 1713. Damals erschien der Wirt der Kettenwirtschaft, Georg Michael Endress, plötzlich mit Ernennungsdekreten der Grafen im Rathaus. Die bestellten ihn zum Bürgermeister, ohne dass der Stadtrat ihn vorgeschlagen hatte. Schlimmer noch, Endress war nicht einmal Mitglied des Stadtrats. Diese Übergehung der städtischen Rechte konnte der Stadtrat natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Dagegen sprachen nicht nur juristische Gründe, die Einsetzung der Bürgermeister hatte sich schließlich an die gewohnten Regelungen zu halten, sondern auch persönliche. Denn so sehr Endress von seiner Eignung zum Bürgermeisteramt überzeugt war, so entschieden glaubte der Stadtrat das Gegenteil.

Georg Michael war der Sohn des Kettenwirts Nikolaus Endress, der bei seinem Tod 1705 Bürgermeister gewesen war. Der Sohn hatte die Kette übernommen und war 1707 in die Büttnerzunft aufgenommen worden. Wegen des Erbes wurde in der Familie prozessiert, und bei den Büttnern war Endress gleich in einen Beleidigungsprozess verstrickt. Schwerer aber wogen andere Vorwürfe. Endress hatte gegen das sechste Gebot verstoßen. In Hannover hatte er ein Kind gezeugt, außerehelich, und auch in Wertheim war der Wirt für gleich mehrere Schwangerschaften verantwortlich. So schlimm hatte Endress es getrieben, dass der Stadtpfarrer ihn für etliche Jahre nicht zum Hl. Abendmahl zugelassen hatte. Der Stadtrat formulierte es in seinem Protestschreiben drastisch: „Ist kein dergleichen scandaleuser Mann und grober Ehebrecher und Hurenbock in der ganzen Grafschaft Wertheim bei Manns Gedenken nicht gewesen.“

Und so einer sollte nun Bürgermeister sein? Das würde kein gutes Bild abgeben, meinte der Stadtrat. Schließlich dürfe niemand, der außerehelichen Geschlechtsverkehr gehabt habe, Meister einer Zunft sein. Der Stadtrat machte die Grafen außerdem noch darauf aufmerksam, dass die „hohen Herrschaften“ im Ablebensfall vom Inneren Stadtrat zu Grabe getragen würden, in diesem Fall also auch vom Endress.

Die Argumente der Stadt scheinen überzeugt zu haben, denn Bürgermeister ist der Kettenwirt schließlich nicht geworden. Warum genau, ist nicht bekannt. Die ganze Geschichte tauchte zwei Jahrzehnte später in einem Prozess der Stadt gegen die Grafen vor dem Reichskammergericht wieder auf, in dem es um die Rechte der Stadt ging.

In anderen Zusammenhängen erscheint der Kettenwirt Endress noch mehrfach in den Akten. 1719 wird er wegen Vergewaltigung angezeigt. Das Opfer, eine junge Frau, berichtet eine üble Geschichte, nach der Endress sie in seinem Haus am Marktplatz (die damalige Kettenwirtschaft ist heute die Bach’sche Brauerei) „wie ein Vieh“ behandelt hatte. 1730 schließlich wurden in der Nacht in Wertheim zwei Schmähschriften gegen Endress aufgehängt. Man fahndete nach den Urhebern, ohne Erfolg. Immerhin erfahren wir bei dieser Untersuchung, dass Georg Michael Endress nun Mitglied des Inneren Stadtrats geworden war. Als Stadtrat durfte er natürlich nicht in „boshafter und gottloser Weise“ beleidigt werden. Da man die Urheber nicht finden konnte, sollte der Scharfrichter die Schmähschriften auf dem Markt öffentlich verbrennen. So hoffte man, die Ehre des Wirts und Stadtrats wiederherzustellen – eine Ehre, die durch das Verhalten des Endress in früheren Jahrzehnten durchaus nicht ohne Flecken war.

Druck: Fränkische Nachrichten 22.10.2009