Wer historische Akten liest, bekommt viel Trauriges zu sehen. Das liegt in der Natur der Sache, entstehen Akten doch oft dann, wenn etwas schief gelaufen ist. Von kleinen Vergehen bis hin zu Mord und Totschlag ist in den Unterlagen der Justiz alles vertreten. Untersuchungen werden vorgenommen und Prozesse geführt, um die Gerechtigkeit wieder herzustellen. Den Opfern der Verbrechen nutzt das häufig nichts mehr, etwa weil sie tot sind. So auch in der folgenden Geschichte. Sie ist derart furchtbar, dass man noch heute zu spüren meint, wie dem Wertheimer Beamten Hieronymus Agricola die Feder beim Aufschreiben stockte. Agricola schrieb im Jahr 1626. Seit einigen Jahren tobte der Krieg, den man später den Dreißigjährigen nennen sollte, und drei Jahre später kam es in der Grafschaft zu einer Welle der Hexenverfolgungen.
Die Geschichte beginnt in Wertheim, wo eine Frau in einer Heckenwirtschaft einen Wein trinkt. Es ist ein Dienstag im September. Niemand kennt die Frau, eine Fremde also. In der Schenke findet sich ein Trupp Jungen ein, eine „Rotte“, schreibt Agricola. Sie sei eine entlaufene Hexe, rufen die Jungen. Die Frau steht auf, verlässt die Schenke und will aus der Stadt. Die Jungen bewerfen sie auf dem Weg zum Eicheltor mit Steinen und Kot. Immer wieder die Rufe: Hexe, Hexe. Die Wächter auf dem Eicheltor stimmen ein. Auch die Wächter werfen Steine, sodass die Frau am Kopf zu bluten beginnt.
Was sie am Mittwoch getan hat, wissen wir nicht. Am Donnerstag kommt sie nach Urphar. Dort hat sich die Geschichte vom Dienstag mit der vermeintlichen Hexe schon herumgesprochen. Drei Buben aus Urphar und der Sohn des Schmieds aus Lindelbach machen es wie die Wertheimer und bewerfen sie mit Steinen. Aber nicht nur das: Sie schlagen sie auch mit „Pfählen“, wie es in dem Bericht heißt. Bis kurz vor Bettingen wird die Frau von den Jungen geprügelt, dann kann sie nicht mehr gehen. Sie setzt sich, spricht die zehn Gebote, mehrere Vaterunser und murmelt: „Herr Jesu, soll ich denn mein Leben also schändlich enden?“
Mittlerweile sind auch Buben aus Wertheim wieder dabei. Einer von ihnen nimmt einen angespitzten Stock und stößt ihn der Frau in den Mund. Ohnmächtig bleibt sie liegen. Die Jungen ziehen die Frau aus und untersuchen sie nach Wertsachen, finden aber nichts. Nun kommt der Schlusspunkt der Geschichte: Die Jungen binden der Frau eine Weide um den Fuß, ziehen die Bewusstlose an den Main und werfen sie in den Fluss.
Als die Leiche aus dem Main gezogen wird, ist sie nackt bis auf einen Fetzen Stoff am Hals. Zunächst nimmt man an, sie sei von Soldaten getötet worden. Der Bettinger Schultheiß ordnet an, der Pfarrer solle die Frau in einer Ecke des Friedhofs bestatten. Vorher begutachtet aber noch der Wertheimer Beamte die Leiche. Das Haar sei etwas kurz, wie bei alten Leuten üblich, bemerkt er. Ansonsten kann er nichts Auffälliges finden, insbesondere keine Anzeichen, dass es sich um eine Hexe gehandelt haben könnte. Nur Wunden hat sie am Kopf und am ganzen Leib, „dass es zum Erbarmen gewest“, schreibt Agricola.
Druck: Fränkische Nachrichten 1.12.2009