Was weiß man über die kirchliche Situation in Wertheim am Vorabend der Reformation? Erst wenige Jahrzehnte zuvor hatte der Papst 1481 die Stadtkirche in den Rang einer Stiftskirche erhoben. Damit wurden die in Wertheim tätigen Priester nun zu Chorherren oder Kanonikern, die als Mitglieder des Chorstifts Tag für Tag gemeinsam beteten und die für das Seelenheil gestifteten Messen und sonstigen Gottesdienste feierten. Die Wertheimer Grafen, die sich in der Stiftskirche auch begraben ließen, konnten sich fortan der Pflege der Erinnerung an sie (und der regelmäßigen Totenmessen für ihr Seelenheil) durch die neue Institution besonders sicher sein. Und nicht zu vergessen: Mit Dekan und Propst, Kustos und Kantor gab es neben den Kanonikern noch schöne Würden am Chorstift, die durchaus etwas hermachten. So konnte man sich neben Würzburg blicken lassen, wo es ja auch ein Domstift gab.
1517 brachte dann Martin Luther seine Thesen zum Ablasshandel in Umlauf. Ein Jahr später ließ der Wertheimer Graf Georg an der Stiftskirche eine Schrift anschlagen, in der er sich gegen die Vielzahl von Stiftungen für Totenmessen aussprach und stattdessen mehr praktische Nächstenliebe forderte. Offensichtlich hatte sich hier etwas verändert. Graf Georgs Schrift richtete sich auch gegen die Interessen der Kanoniker des Wertheimer Chorstifts, deren Pfründen von solchen Stiftungen profitierten. Der Anschlag brachte Georg ein Protestschreiben aus Würzburg ein.
Man darf sich wohl vorstellen, dass die Kanoniker des Wertheimer Chorstifts ihre Messen feierten, ohne sich groß um die einfachen Gläubigen zu kümmern. Für diese gab es einen Stadtpfarrer. Dieses Amt hatte der Dekan des Chorstifts, Johann Friedel, über lange Jahre ausgeübt. Nach seinem Tod 1519 ergab sich hier aber ein Problem, denn ein neuer Dekan wurde nicht bestellt. Stattdessen fungierte der Chorherr Daniel Hofmann mit päpstlicher Erlaubnis als „Senior“ des Stifts.
Wer aber kümmerte sich um die Seelsorge in der Stadt Wertheim? Bereits im August 1519, nach dem Tod Friedels, hatte Graf Georg den Haslocher Pfarrer Niclaus Nürnberger zu Verhandlungen wegen Friedels letztem Willen nach Würzburg geschickt. Und im Frühjahr des folgenden Jahres teilte er Würzburg mit, er habe den Nürnberger „zu einem Verseher der Pfarr Wertheim ein zeitlang angenommen“, jedenfalls so lange, bis er dem Bischof einen neuen Pfarrer sozusagen förmlich präsentiere. Das war bemerkenswert, denn der Graf hatte zwar das Recht einen neuen Pfarrer vorzuschlagen (Präsentation), die Einsetzung (Investitur) konnte aber nur der Bischof vornehmen. Deswegen bat Georg den Bischof auch, dem Nürnberger „in dieser heiligen österlichen Zeit zur Versehung des Pfarrvolks curam animarum zu schicken“, ihm also die seelsorgerlichen Rechte in Wertheim zu übertragen.
Zugleich bemühte sich Georg um eine andere Lösung. Über den Würzburger Weihbischof ließ er an der Universität Ingolstadt nach einem geeigneten Kandidaten suchen. Und es kam auch eine Antwort. Der Ingolstädter Dekan empfahl einen gewissen Hans Götz als „ein frommer, ehrbarer und gelehrter Magister der heiligen Schrift“. Darüber hinaus sei Götz ein enger Vertrauter des Dr. Eck – also just jenes Professors, der sich im Jahr zuvor in der Leipziger Disputation mit Luther als dessen kirchentreuer Widersacher profiliert hatte. Das war Graf Georg sicher bewusst, denn die 14 Tage dieses öffentlichen Streitgesprächs hatten großes Aufsehen erregt.
Im Mai schrieb Götz wegen Besoldungsfragen und im Juli wurde er vom Würzburger Generalvikar als Pfarrer in Wertheim eingesetzt. Der neue Stadtpfarrer wurde in Wertheim aber nicht recht glücklich. Immerhin muss er mindestens bis Weihnachten 1520 in der Stadt gewesen sein, vielleicht auch länger. Der neue Pfarrer geriet in einen Streit mit dem erwähnten Senior des Chorstifts, mit Daniel Hofmann, der damals schon fast zwanzig Jahre Chorherr war. Hofmann schwärzte den Pfarrer bei Graf Georg an und Götz verfasste zu seiner Verteidigung ein Schreiben, das Einblicke in die kirchliche Situation in Wertheim gewährt.
Im Wertheimer Kirchenwesen lag manches im Argen, fand Götz. Die Stiftsherren kamen ihren Aufgaben nicht nach. Auch an hohen Festtagen waren sie oft abwesend, statt die Messe zu feiern. Wie aber kann man vom Volk Fleiß beim Besuch des Gottesdienstes erwarten, wenn man ihn selbst nicht aufbringt?, fragte Götz. Unter der Woche fand in Wertheim tagsüber gar keine Messe statt, „als wäre unsere Stadt ein Dorf“. In allen Städten gebe es eine Tagesmesse, schreibt Götz, und in einer Stadt mit einem Stift sollte es erst recht eine geben.
Die Anwesenheitspflicht der Geistlichen, überhaupt ihre oft laxe Pflichterfüllung, das war ein oft gehörter Kritikpunkt am Klerus in den Jahrzehnten vor der Reformation. Bei Götz verband er sich mit einer Person: Senior Daniel Hofmann. Denn ausgerechnet Hofmann gehörte zu denen, die oft fehlten. Dann wurde Götz auch richtig persönlich. Graf Georg wisse ja, was Daniel für einer sei und was für ein Leben er führe. In Gegenwart von gelehrten Leuten tue der „Grobpuffel“ seinen Mund nicht auf, schreibt Götz. Das war natürlich eine feine Herabsetzung des Seniors durch den Magister Götz, der frisch von der Universität Ingolstadt gekommen war. Weniger fein deutet Götz an, dass Daniel Hofmann mindestens einen Sohn hatte, und zwar in Bestenheid. Die inoffiziellen Priesterehen und Priesterkinder trotz offiziell geltenden Zölibats wurden viel kritisiert. Das galt also auch für Wertheim. Götz schreibt, wenn er drei Kinder und eine schöne Metze hätte und predige, dass dies keine Sünden seien, dann würden ihn „etliche Pfaffen und Leute“ erst als rechten Pfarrer ansehen. Das spielte wohl wieder auf Daniel Hofmann an.
Schließlich hatte es wohl auch noch Streitigkeiten über die Gestaltung der Messe gegeben. Götz hatte deswegen an den Weihbischof und die Universität Ingolstadt geschrieben, aber Hofmann unterstützte ihn nicht. Die Chorherren „lassen Messe lesen (und) singen wie sie wollen“, beschwert sich Götz, und Senior Hofmann greift nicht ein. Und an Weihnachten waren sich der Stadtpfarrer und die Stiftsherren bei den Zeiten ihrer Gottesdienste in die Quere gekommen. Gut vorstellbar, dass die alteingesessenen Herren sich von dem Neuankömmling, der auch noch schlechter besoldet war als sie, nichts sagen lassen wollten. Dahinter stand aber auch ein grundsätzlicher Konflikt: „Wenn die Menschen die Messe (bei Hofmann) gehört haben, so kommen ihrer gar wenig zu den Evangelien oder Predigt“, beschwerte sich Götz. Die Kirchenmänner schreckten im Streit auch vor kräftigen Ausdrücken nicht zurück: „Darf man nit mit dir reden du alter Narr, ich darf dir ein Mal eins in das Maul geben“, zitiert Götz einen von ihnen.
Sich selbst schilderte der Mann aus Ingolstadt als jemanden, der seine Aufgabe ernst nahm und versuchte, danach zu leben. Das Gute lehren und die Laster strafen, sei sein Ziel. Es gehe auch um seine Seele, wenn der Herr einst Rechenschaft von ihm verlangen werde. Deswegen wolle er seinen Schäflein mit gutem Beispiel und guter Lehre vorangehen. Zuviel zu tun hat er übrigens auch. Götz muss die Frühmesse alleine ausrichten. Ohne Kaplan kann er das auf Dauer nicht leisten, so Götz. Als Vorbild für seine Predigten gibt er noch Johann Geiler von Kaisersberg an, den 1510 gestorbenen Straßburger Domprediger, einen weithin berühmten Mann, dessen Predigten auch gedruckt worden waren. Und auf die Frage, wie der Mensch selig werden könne, empfiehlt er ihm unter anderem „die Gemeinschaft und Verdienung aller lieben Heiligen“ – ein sehr katholischer Gedanke.
Es kamen wohl viele Schwierigkeiten zusammen für diesen Wertheimer Pfarrer in schwieriger Zeit. Persönliche Animositäten und Probleme eines Neugekommenen mit alten Strukturen vermischten sich mit den Eigenarten der Lebensführung des damaligen Klerus, der Pfarrorganisation und theologisch-pastoralen Aspekten. Wie lange Götz in Wertheim blieb, ist nicht recht klar. 1523 wollte Graf Georg wieder einen Chorherrn zum Stadtpfarrer machen und wandte sich deswegen an Würzburg.
In der Zwischenzeit hatte nicht nur der Wertheimer Graf Luther persönlich kennengelernt, sondern Luther war durch das Wormser Edikt zum Ketzer erklärt worden. Die Entwicklung, die zur Reformation wurde, hatte Fahrt aufgenommen. Die von Götz geschilderte Situation in Wertheim 1520 dürfte recht typisch für die damalige Zeit gewesen sein. Die Ereignisse um den Pfarrer Götz zeigen uns aber auch einen Zustand, in dem noch offen war, wohin die Reise in Wertheim gehen würde.
Druck: Fränkische Nachrichten 23. und 24.5.2012