1527 ging der Pfarrer von Nassig in Pension. Zum Unterhalt für seine alten Tage erhielt er von Graf Georg eine Pfründe im Wertheimer Spital. Er hatte es sich verdient: 53 Jahre hatte Pfarrer Veit sich um die Seelen der Nassiger gekümmert, hatte sie getauft, verheiratet und beerdigt. Bei Antritt seines Dienstes im Jahr 1474 hatte Martin Luthers Geburt (1483) noch in den Sternen gestanden, aber sein Nachfolger bekam es nun gleich mit den Problemen dieser Jahre der Reformation zu tun. Graf Georg hatte nämlich einen „evangelischen Predicanten“ auf die Stelle gesetzt, was dem (katholischen) Erzbischof vom Mainz, der für Nassig zuständig war, gar nicht passte. Er beklagte sich über deutschsprachige Messe und eigenmächtige Änderungen an den Zeremonien. Der Wertheimer solle den lutherischen Prediger in Nassig umgehend abschaffen, verlangte er. In der Sicht des Erzbischofs hing der Pfarrer einer „irrigen Lehre“ an, unter der Deutschland schwer zu leiden habe – womit er eben das Luthertum und die Reformation meinte. Der Wertheimer Graf Georg, ein Anhänger der neuen Bewegung, antwortete unbeeindruckt: Von „ungeschickten Predigten“ des Nassigers habe er noch gar nichts gehört. Dann lässt er den Pfarrer zu sich kommen und liest ihm den Brief des Erzbischofs vor. Der Nassiger Pfarrer weist alle Vorwürfe zurück: Er hängt keiner neuen irrigen, sondern den „alten, wahren und einhelligen Lehren“ Jesu Christi an, in denen auch der heilige Geist wirke. Er versichert, seine Pfarrkinder gut zu unterweisen und sich von neu erdachten menschlichen Lehren fernzuhalten.
Das war subtil argumentiert: Was der neue Pfarrer tat, war nicht etwa neu, sondern gerade alt, weil es auf Jesus Christus selbst zurückging, und irrig konnte es damit erst recht nicht sein. Weiter heißt es, der Erzbischof solle die Leute nennen, die ihn beschuldigten. Graf Georg schloss sich dieser Bitte an und versicherte noch, der Pfarrer sei von der Grafschaft Wertheim eingesetzt (belehnt) und stehe unter ihrem Schutz.
So ging es mehrfach hin und her, ohne dass die Mahnungen des Erzbischofs in Wertheim groß Eindruck gemacht hätten. Unterdessen war aber in Nassig ein ganz anderes Problem aufgetaucht. Dort hatte der neue Pfarrer nämlich in einer Truhe in der Sakristei ein altes Altartuch (Corporal) entdeckt, in dem sich alte Hostien befanden. Aber nicht nur das: Die Hostien waren zu einer undefinierbaren Masse zusammengebacken. Der Pfarrer erschrak. Denn waren die Hostien nicht in der Eucharistie zum Leib Christi geworden, zum heiligsten Sakrament überhaupt, in dem Jesus Christus anwesend war? Und dieses Sakrament lag nun als bröckeliger Haufen in einer Truhe in der Nassiger Sakristei. Was tun? Bei heiklen Fragen empfiehlt es sich ja immer, weiter oben nachzufragen. So auch hier. Der Pfarrer und der Nassiger Kirchner packten das Tuch zusammen und machten sich auf den Weg zum Wertheimer Pfarrer. Der erschrak ebenfalls. Was hatte der alte Pfarrer Veit hier bloß gemacht? Lag etwa ein Fall von Sakramentenschändung vor? Der Wertheimer Pfarrer beschloss nun seinerseits, sich nach oben zu wenden: „Lieber Herr Pfarrer“, soll er zu seinem Nassiger Kollegen gesagt haben, „ich hab auch nicht zu gebieten. Aber ich rate euch: Haltet die Sache still und heimlich, bis unser gnädiger Herr wiederkommt.“ Der „gnädige Herr“ also, noch eine Etage höher: Graf Georg persönlich sollte entscheiden.
So kam es zu einer großen Versammlung der Wertheimer Kirchenmänner am Mittwoch nach Lätare des Jahres 1528 vor Graf Georg. Anwesend waren der neue Nassiger Pfarrer, der Kirchner, der alte Pfarrer Veit, der Wertheimer Stiftsdekan, Dr. Hans Bestenheid, Chorherr zu Wertheim, der Pfarrer von Wertheim und andere. Man war nun hier mitten in ein Problem geraten, das die klügsten Männer der Kirche seit der Antike beschäftigt hatte. War der Leib Christi durch die Eucharistie in der Hostie tatsächlich real präsent? Die katholische Kirche plädierte schließlich für ein entschiedenes Ja. Manche Reformatoren dagegen meinten, man solle die Sache eher symbolisch verstehen. Wobei die Wirkungen des Sakraments wiederum so verstanden wurden, als ob der Leib real präsent sei. Luther plädierte auch für Realpräsenz. Die Sache war so wichtig, dass er eine eigene Abhandlung darüber verfasste. Man befand sich in Wertheim durch die Nassiger Hostien, die Pfarrer Veit – er war ja nicht mehr der jüngste – vielleicht einfach nur vergessen hatte, in einem theologischen Problem äußerster Dimension. Was also war zu tun?
Chorherr Dr. Bestenheid riet dazu, die Sache zu verheimlichen, das Tuch zu verbrennen und den Priester zu strafen. Alternativ könnte man den Fall dem Mainzer Erzbischof vorlegen. Der Stiftsdekan äußerte sich ähnlich: Das Tuch verbrennen und die Asche neben dem Altar vergraben oder sich an den Erzbischof wenden. Am besten kannte sich in den kirchenrechtlichen Regelungen der Wertheimer Stadtpfarrer, also der Reformator Eberlin, aus. Er sprach von „Negligenz des Sakraments“ und konnte die entsprechenden Stellen aus dem kanonischen Recht auswendig zitieren.
Was sollte nun Graf Georg machen? Schließlich war er kein Theologe, sondern Wertheimer Graf. Laut Bericht soll er gesagt haben, dass „solch Händel unsers Glaubens uns zu hoch sind“, um sich dann für die schon bekannte Lösung zu entscheiden: Weiter oben nachfragen. Pfarrer Veit sollte mit dem Tuch und mit Dr. Bestenheid nach Aschaffenburg zum Ordinariat fahren und die heikle Sache am Stuhl des Bischofs entschieden werden. Das sah nun zwar so aus, als akzeptierte Graf Georg die Zuständigkeit des Erzbischofs in einer Frage der Pfarrei Nassig, die er ansonsten ablehnte. Es war aber eigentlich eine listige Idee. Schließlich war die Misere mit den Hostien nicht vom neuen evangelischen Pfarrer, sondern vom alten katholischen verursacht worden. Graf Georg konnte wohl zu Recht davon ausgehen, dass der Erzbischof gegenüber seinem eigenen Mann Milde walten lassen würde.
So war diese Konferenz der Wertheimer Geistlichkeit, die Altgläubige und an Luther Orientierte in der Nassiger Hostienfrage zusammengeführt hatte, zu einem glücklichen Ende gekommen. Da kam die Sorge auf, Stäubchen des Sakraments könnten durch das Tuch gefallen sein. Vorsichtshalber kehrte der Chorherr Johann Rudolf alles zusammen.
Druck: Fränkische Nachrichten 18.7.2012