Lässt sich der Zeitpunkt bestimmen, an dem der normale Untertan im 16. Jahrhundert einen klaren Unterschied zwischen alter (katholisch) und neuer (evangelisch) Kirche machte? Dies ist eine der schwierigen Fragen der historischen Forschung zur Konfessionalisierung, zu der es interessante Quellen aus der Grafschaft Wertheim gibt.
Mitte der 1550er Jahre scheint es noch ganz normal gewesen zu sein, dass ehemalige Mönche evangelische Pfarrstellen übernahmen. So geschah es jedenfalls in Waldenhausen und Niklashausen, wo ehemalige Mönche aus Bronnbach den Pfarrdienst versahen, die damals vermutlich zusammen mit ihrem Abt evangelisch geworden waren. Von Schwierigkeiten oder Protesten dagegen hört man nichts. Eine Generation später, im Jahr 1578, war dies anders. Damals schickten die Gemeinden von Urphar, Bettingen und Lindelbach einen Beschwerdebrief nach Wertheim, als sie einen neuen Pfarrer bekommen sollten. Die Gemeinden waren damit gar nicht einverstanden. Der neue Mann hatte sich bei ihnen umgesehen, hatte die Güter der Pfarrei besichtigt und mitgeteilt, er werde ihr neuer Pfarrer sein. „Welches uns alle sehr verwundert“, schrieben die Gemeinden nach Wertheim. Bei dem Kandidaten, den die Orte ablehnten, handelte es sich um Melchior Leusser, bis dahin Prior im Kloster Bronnbach.
Als Prior war Leusser Stellvertreter des Abtes im Kloster gewesen und hatte damit ein hohes Amt in der Klosterhierarchie inne. Über seine Ausbildung ist leider genau so wenig bekannt wie über seine Weihegrade, aber sicher hatte er nicht evangelische Theologie studiert. Seit 1573 war in Würzburg Julius Echter Bischof, der versuchte, für die Katholiken verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Julius Echter hatte die Verhältnisse im Kloster Bronnbach untersuchen lassen und festgestellt, dass Vieles im Argen lag. 1578 wurde ein neuer Abt eingesetzt, unter dem das Klosterleben wieder den dafür vorgesehenen Regeln folgte.
Gut möglich, dass der Prior als Folge dieser Visitation das Kloster verließ. Er kümmerte sich sozusagen um eine neue Stelle, und Graf Ludwig zu Löwenstein sagte ihm die Bettinger Pfarrei zu. Allerdings sollte er zunächst ein halbes Jahr in Wertheim wohnen, dort fleißig studieren und bei Gottesdiensten in der Stadt das Predigen üben.
Warten auf die Ordination
Auch in Bettingen sollte er predigen, allerdings ohne die Kommunion auszuteilen und ohne zu taufen. Für diese Aufgaben mussten bis zu seiner Ordination die beiden Wertheimer Kapläne nach Bettingen gehen. Die Ordination wurde Leusser fest zugesagt: Sobald er genug geübt und „den rechten Grund wahrer christlicher Religion durch Erleuchtung Gottes ergriffen und erfahren“ hatte, sollte er als Pfarrer in Bettingen ordiniert werden. In der Zwischenzeit erhielt er bereits die komplette Besoldung des Bettinger Pfarrers.
Die drei Gemeinden, die er zu versorgen hatte, zweifelten an seiner Qualifikation. Denn Melchior Leusser kam aus dem Kloster Bronnbach und dem Bistum Würzburg und hatte vorher weder in einer Schule noch in einer Kirche „unsere Religion“ vertreten, schrieben sie. Anders als eine Generation zuvor war die Konfession jetzt wichtig geworden. Die Gemeinden hatten sich beim Superintendenten und anderen in der Stadt erkundigt und erfahren, dass Leusser derzeit nicht tauglich sei und in der hl. Schrift nicht belesen. Nun musste der Bettinger Pfarrer aber nicht nur drei Gemeinden versorgen, sich um Kranke und Schwangere kümmern und die Sakramente reichen, sondern er hatte auch ständig mit Würzburg zu kämpfen und zu disputieren, das im Rahmen der Fehde zwischen Julius Echter und der Grafschaft Wertheim fast alle Einkünfte der Pfarrei für sich beanspruchte. Um nicht falsch verstanden zu werden, machten die Gemeinden noch klar, sie hätten nichts Grundsätzliches gegen einen neuen Pfarrer. Denn schließlich unterrichte der Pfarrer sie nicht nur mit Gottes Wort, sondern er sei auch für den Besamungsbullen ihrer Ortschaften zuständig. In welchem Verhältnis dieser Besamungsbulle zu den konfessionellen Überlegungen stand, ist kaum zu sagen.
Graf Ludwig zu Löwenstein und seine Mitregenten nahmen auf die Bedenken der Gemeinden ebenso wenig Rücksicht wie auf die Meinung des Superintendenten. Sie unterstützten den Klosterprior, der sich für die Reformation entschieden hatte. Leusser wurde Pfarrer in Bettingen, Urphar und Lindelbach und blieb es für mehr als 40 Jahre. In dieser Zeit hatte er immer mal wieder den üblichen Ärger mit seinen Pfarrkindern, weil sie ihn an seinen Einkünften verkürzten. Von konfessionellen Schwierigkeiten hört man nichts. Sein Sohn Heinrich wurde später ebenfalls Pfarrer, in Höchst im Odenwald, sein Sohn Kilian übernahm verschiedene Schulposten in der Grafschaft Wertheim. Und die Sache mit dem Besamungsbullen scheint Leusser auch zur Zufriedenheit von Bettingen, Urphar und Lindelbach gelöst zu haben.
Druck: Fränkische Nachrichten 20.11.2013