Früher hatte jede Stadt ihren Stadtschreiber. Auch in Wertheim erscheint der Stadtschreiber bereits im 16. Jahrhundert in den Archivquellen. Man muss sich seine Aufgabe ganz wörtlich vorstellen: Der Stadtschreiber schrieb, was es an offiziellen Schriftstücken zu schreiben gab. Testamente, Erbteilungen, Kauf- und Eheverträge der Bürger gehörten dazu, für deren Ausstellung die Bürger dann Gebühren zahlten, aber auch offizielle Dokumente der Stadt Wertheim. Dabei war der Stadtschreiber gar kein rein städtischer Beamter, sondern er wurde von den Grafen eingesetzt, die Stadt hatte ihn nur zu bezahlen. Von Anfang an waren die Stadtschreiber Juristen, meist sogar Notare – das machte Sinn, weil die von ihnen geschriebenen Schriftstücke so eine besondere Bedeutung erhielten. Weil sie Juristen waren, saßen die Stadtschreiber auch gleich im Wertheimer Zentgericht, das für schwere Kriminalfälle zuständig war, später konnten sie kleinere Klagen von Bürgern und Ordnungswidrigkeiten nach den Statuten der Stadt selbst entscheiden.

1607 wurde ein Jurist und Notar mit dem schönen und in Wertheim eher seltenen Namen Ambrosius Stadtschreiber (sein Nachfolger sollte dann übrigens, vielleicht noch schöner, Adelarius heißen). Ambrosius hieß mit Nachnamen Kitting, stammte aus Colditz in Sachsen und war 1598 nach Wertheim gekommen. Die Löwensteiner, denen er zunächst als Sekretär diente, hatten ihn vom Reichskammergericht in Speyer, wo er als Rechtsanwalt tätig war, nach Wertheim geholt, wo er eine wohlhabende Witwe heiratete. Zehn Jahre lang versah er die Stadtschreiberei, ohne dass man von Beschwerden hört, dann erschütterte ein schwerer Schlag den Wertheimer Frieden: Gegen den Stadtschreiber wurde Anklage erhoben.

Der Vorwurf – Urkundenfälschung – war unangenehm, erst recht für einen Juristen. Kitting sollte auf Anstiftung des Pfarrers von Höchst im Odenwald und mit Unterstützung des Wertheimer Archivars Unterlagen für einen Erbstreit des Pfarrers gefälscht haben. Eigentlich unglaublich, dass Pfarrer, Notar und Archivar sich zusammengetan haben sollen, um ungesetzliche Dinge zu tun. Die Juristen der Universität Heidelberg, die den Fall beurteilen sollten, plädierten trotzdem auf schuldig. Als Strafe sahen sie Absetzung vom Amt und eine hohe Geldstrafe vor, wahlweise Landesverweisung. Die Strafe setzte man in Wertheim auf 2000 Gulden fest. Sehr viel Geld, das Kitting nicht hatte. Da er aber Jurist war und sich zu wehren wusste, machte er eine Gegenrechnung auf und stellte zusammen, was die Grafen ihm angeblich noch an Geld für seine Dienste schuldeten.

Damit scheint Kitting den Bogen endgültig überspannt zu haben. 1618 wurde er als „meineidiger Fälscher“ vors „Peinliche Halsgericht“ geladen. Mittlerweile wurde ihm auch eigenmächtige Bereicherung vorgeworfen. Der ehemalige Stadtschreiber reagierte mit Flucht. Doch wohin? Er geht nach Breuberg. Pfarrer Klein hält gerade Schule, als Kitting unversehens am Fenster auftaucht. Was will er in Breuberg? „Geantwort: Er wüsst es schier selber nicht. Es ging ihm so seltsam, daß er sich eben heraus gemacht.“ Hat ein Dekret bekommen: er soll seine Besoldung zurückzahlen. Die Wertheimer Räte hätten ihm vorgehalten, er habe die Schuldbücher verfälscht. Befürchtet seine Verhaftung. „Derwegen er sich aus dem Staub gemacht.“ Später findet Kitting sich in Miltenberg auf kurmainzischem Gebiet, und dort gelang es den Wertheimer Grafen, ihn festnehmen zu lassen.

Er wurde nach Wertheim überstellt und dort inhaftiert. Auch in dieser Lage blieb der ehemalige Stadtschreiber seinem alten Beruf verbunden: Unermüdlich verfasste er Bittschrift um Bittschrift, schleuderte Schriftsatz auf Schriftsatz gegen seine Ankläger heraus. Und tatsächlich scheint auf deren Seite eine Art Ermüdung eingetreten zu sein. Kitting kam frei und seine Strafe wurde herabgesetzt. Über zehn Jahre finden sich fortan immer wieder Klagen, er sei mit der Bezahlung seiner Strafe im Rückstand. Aus dem Lande gewiesen wurde er trotzdem nicht. Vermutlich kam der ehemalige Wertheimer Stadtschreiber gar nicht schlecht über die Runden: Aus dem Kurmainzischen gab es Beschwerden, Kitting würde für dortige Untertanen juristische Schriftsätze verfassen. So blieb der Mann sich selber treu. Eine Zierde seines Berufsstandes dürfte er trotzdem nicht gewesen sein.

Druck: Fränkische Nachrichten 18.6.2010