Ging es an dieser Stelle zuletzt um den Wertheimer Stadtschreiber, so ist heute der Stadtmüller dran. Eigentlich hieß der Stadtmüller Herrenmüller, weil er in den Zeiten des heiligen Römischen Reiches ein Mann der Herrschaft war, also der Grafen von Löwenstein-Wertheim, die die Mühle tauberaufwärts vor der Stadt damals verpachteten. Stadtmüller war aber auch nicht ganz falsch, denn diese Mühle war die einzige in der Stadt. Der Stadtmüller hatte das Mahlmonopol, alle Wertheimer mussten bei ihm mahlen lassen und die Eicheler, Bestenheider, Grünenwörter und vermutlich auch die Kreuzwertheimer noch dazu. Man nannte das „Mahlzwang“ und sprach von „gebannten Mahlgästen“, also Leuten, die gezwungenermaßen auf die Dienste der Stadtmühle zurückgreifen mussten. Die Mühlenordnung legte dies wie vieles andere fest. Sie regelte auch die Tätigkeit der zwei Mühlmeister, die den Müller kontrollieren sollten und bei Streitigkeiten zwischen ihm und seinen „Gästen“ schlichten. Trotz aller Regeln kam es nämlich vor, dass diese ihr Mahlgut „zu wenig oder gar zu grob, sandig, schwarz oder verbrannt“ vom Müller zurück erhielten. Auch für das Verhalten der Mühlgäste in der Mühle gab es eine schriftliche Ordnung, in der unter anderem gegenseitiges Beleidigen, Schmähen und Schlagen in der Mühle untersagt wurde.
Der Bereich der Brotversorgung in der frühneuzeitlichen Stadt war unglaublich stark reguliert: neben dem Müller und den Bäckern, deren Arbeit eine Bäckerordnung regelte, gab es noch die Brotschätzer und Brotwieger, die das Gewicht der Backwaren und die Vorräte der Bäcker kontrollierten. Sie lagen traditionell mit den Bäckern im Streit, denen Kontrollen und Vorschriften natürlich auf die Nerven gingen und die das Gefühl hatten, die ganzen Regeln allein würden noch keine Brötchen backen. Es versteht sich, dass auch der Preis von Brot und Brötchen von der Obrigkeit festgelegt wurde.
In dieses Metier kam nun im Jahr 1600 mit Gottfried Bocatius ein Müller, wie man ihn sich vorstellt. Bocatius war gelernter Zimmermann, er hatte in Wessental eine Mühle errichtet und betrieben. Gut zwanzig Jahre sollte er auf dem Wertheimer Posten bleiben, sogar länger also als der erwähnte Stadtschreiber. Zwischen den beiden gibt es erstaunliche Parallelen: wie der Stadtschreiber verfasste Bocatius zahlreiche Eingaben an die Herrschaft, in denen er sich über allerlei beschwerte, wie dieser führte er gerne Prozesse und ganz wie dieser schied er am Ende im Streit und mit schweren Schulden aus dem Amt.
Zum Teil hatten diese Schwierigkeiten ihre Wurzel in der Mühle selbst. Immer war etwas marode: am Wasserbau, am Ablauf, am Wehr an der Leberklinge. Der Pferdestall stand vor dem Zusammenbruch, das Mahlwerk war baufällig, das Dach löchrig, das Wasser lief an den Mühlenrädern vorbei, beim nächsten Hochwasser wäre es mit der Mühle endgültig vorbei – all dies beschrieb Bocatius in immer wiederkehrenden Schreiben an die Herrschaft. Wenn dann noch das Wasser knapp war wie in den Jahren um 1620 und Bocatius deshalb gar nicht alle Mahlgänge in Schwung halten konnte, dann musste eigentlich jeder Sachverständige einsehen, dass die Bezahlung der Pacht so gut wie ausgeschlossen war. Dachte jedenfalls Bocatius und minderte seine Pacht. Wen wundert’s, dass die Herrschaft ganz anders dachte und die Pachtminderung als wachsende Schuld des Müllers verbuchte.
Notorisch wurde sein Streit mit der Wertheimer Bäckersfamilie Henning. Schon 1602 setzte sich Bocatius mit einer Beleidigungsklage gegen deren Behauptung zur Wehr, bei ihm bekomme man schlechtes Mehl. 1614 lieferte sich der Stadtmüller eine Schlägerei mit einem Knecht von Heinrich Henning, bei der ihm drei Rippen zu Bruch gingen. Ein Jahr später beschwerten sich die Bäcker über den Müller: Er benutzt zu weite Beutel, er schließt Fenster und Türen nicht, er hat keinen gescheiten Besen in seiner Mühle, aus seiner Werkstatt fallen den Bäckern Holzspäne ins Mehl.
1617 zeigte der Stadtmüller den Hans Henning dann wegen Beleidigung und „versuchter Mordtat“ an. Was war passiert? Die Bäckersknechte hatten, so Bocatius, am 4. September 1617 in der Mühle großen Unfug getrieben, Geheule und Geschrei angestimmt und gar die Einrichtung der Mühle in Gefahr gebracht. Hans Henning bediente die Mühle so fahrlässig, dass Bocatius befürchtete, der Mühlstein werde zerspringen. Er wollte dem Henning mit der flachen Hand „ein Ohr Cappen“ geben, verfehlte ihn aber, worauf der Bäcker den Müller zu Boden stieß und mit einem Rohrstock aufs bloße Haupt schlug, dass das Blut nur so floss.
So ging es damals zu in der Wertheimer Stadtmühle, trotz aller Regelungsversuche.
Druck: Fränkische Nachrichten 9.7.2010