Immer mal wieder ist in der Wertheimer Geschichtsschreibung darüber gerätselt worden, wie es Graf Ludwig zu Stolberg-Königstein gelingen konnte, als alleiniger Erbe die Nachfolge der Wertheimer Grafen anzutreten. Deren letzter männlicher Vertreter, Graf Michael III., war am 14. März 1556 ohne männlichen Erben verstorben, seine einzige Tochter Barbara folgte ihm nur elf Tage darauf.

Graf Michael hatte Katharina zu Stolberg geheiratet, Ludwig war also sein Schwiegervater. Ludwigs Stammgrafschaft Stolberg-Wernigerode lag im Harz, auch das Königsteiner Territorium im Taunus hatte er geerbt. Als Reichserbkämmerer und Diplomat in kaiserlichen Diensten verfügte er über gute Kontakte zum Kaiserhof, die er sich im Wettstreit um das Wertheimer Erbe zu Nutze machen konnte. Denn es gab 1556 noch andere, die Ansprüche an diesem Erbe geltend machen konnten. Und das mit Recht, denn was die Herrschaftsnachfolge anging, galt ein Erbrecht, das durch Todesfälle, Heiraten, Eheverträge, Verkauf und Verpfändung von Ansprüchen zu höchst komplizierten Konstellationen führen konnte. Wir wollen trotzdem einen Blick auf die damaligen Wertheimer Verhältnisse werfen.

Hermann Ehmer hat in seiner Geschichte der Grafschaft Wertheim die Erbberechtigten 1556 aufgeführt. Da waren die Grafen von Neuenahr (eine Schwester von Michaels Großvater hatte hier eingeheiratet), die Grafen von Erbach und die von Castell (wo Michaels Tanten Martha und Maria verheiratet waren) sowie die Freiherren von Schwarzenberg (Michaels Schwester Maria) und die Häuser Isenburg-Grenzau (Schwester Margareta) und Isenburg-Büdingen (Schwester Barbara). Graf Ludwigs Ansprüche beruhten letztlich, so Ehmer, nur auf jenem Vierundzwanzigstel seiner Enkelin Barbara, das seine Tochter ihm nach deren Tod übergeben hatte.

Aber Ludwig war vor Ort und handelte. Er ließ sich als Vormund seiner Enkelin noch im März huldigen, im August erreichte er die Belehnung mit den Reichslehen und den Würzburger Lehen. Das waren wichtige Etappen auf dem Weg zur alleinigen Übernahme der Herrschaft in Wertheim. Trotzdem: Ganz am Ziel angekommen war Ludwig noch nicht. Am 31. August kam es nämlich in Worms zu einem großen Schiedstag mit allen, die Ansprüche am Wertheimer Erbe anmeldeten. Das Gremium der Schiedsleute war prominent besetzt (Pfalzgraf Johann, Graf Philipp zu Hanau, der Wormser Domdekan Wilhelm von Schönberg und andere), was die Bedeutung des Wertheimer Erbfalls zeigt. Der Tag brachte schließlich nur eine Teil-Einigung zwischen Erbach und Stolberg, zwischen denen es auch noch um Breuberg und Remlingen ging. Alles weitere sollte am 28. September gemeinsam in Wertheim besprochen werden, wo man auch alle Urkunden, Register und sonstigen Verzeichnisse aus dem Wertheimer Archiv gemeinsam studieren wollte. Das war durchaus üblich. Schließlich musste man zunächst wissen, was an Rechten und Einkünften zu verteilen war, bevor man aufteilen konnte. Nur wer diese Informationen hatte, konnte im Kampf um das Erbe bestehen. In einer solchen Situation wird ein Archiv zur Waffe.

So schickten denn die beteiligten Parteien Abgesandte nach Wertheim zur gemeinsamen Archivbesichtigung. Hier zeigte sich aber nun, wie zielgerichtet Graf Ludwig vorging, um an das Wertheimer Erbe zu kommen. Als nämlich der Isenburger und der Schwarzenberger Abgesandte nach Wertheim kamen, legte man ihnen nur uralte und unverständliche Schreiben vor, und diese auch noch in derartiger Unordnung und Konfusion, dass man daraus nichts ersehen konnte. Das eigentliche Archiv, die laufende Registratur dagegen bekamen sie nicht zu Gesicht. Begründung: Kein Schlüssel da. Die Wertheimer Amtleute des Stolbergers rückten weder die nach dem Tod Michaels III. verfassten Inventare heraus noch Heiratsbriefe oder auch nur das Testament des Grafen Georg II. All dies lief den Wormser Vereinbarungen stracks zuwider, es war offenbar unrechtmäßig. Aber was sollten die Gesandten machen? Graf Ludwigs Leute hatten die Macht in Wertheim schon übernommen, und das Archiv rückten sie nicht heraus. Einer dieser Verwaltungsleute war Friedrich von Ratzenberg, der schon unter dem verstorbenen Grafen Michael Amtmann in Wertheim gewesen war. Er diente nun mit allen seinen Kenntnissen Graf Ludwig. Auch diese Kontinuität zeigte deutlich, wer der neue Herr in der Grafschaft werden sollte.

So wurden die Gesandten der anderen Erbberechtigten abgefertigt. Was sollten sie tun? Sie begaben sich nach Würzburg, kehrten in der Herberge zum Rebstock ein und bestellten einen Notar dorthin. Der brachte ein scharfes Protestschreiben aufs Pergament, abgefasst in der „hinteren kleinen Stube“ des Rebstock. Juristisch ist es einwandfrei formuliert. Genutzt hat es nichts. Der Stolberger konnte sich als alleiniger Herr in den Besitz der Grafschaft Wertheim bringen.

Druck: Fränkische Nachrichten 5.10.2011